Freitag, 19. Juni 2015

Wie weit geht Toleranz?

Vor zwei Tagen hatte ich ein seltsames Erlebnis in der U-Bahn. Ich, stark sehbehindert, stieg in die U-Bahn ein und setzte mich. Da lief ein Mann herum, der permanent laut vor sich hin sang: „alle Damen haben schöne Augen. Was die Damen sonst noch haben, weiß ich nicht, da müsste ich in einem Fachbuch nachschauen.“ Dies wiederholte er in variieren der Lautstärke und näherte sich auch meinem Sitz. Ich bin leider häufig „Opfer“ von solchen Menschen, die in alkoholisiertem oder verwirrtem Zustand dann auf mich zukommen, mich mitunter sogar anfassen und sich an mich heften. Aus dieser Angst heraus sagte ich dann auchzu meiner Sitznachbarin , da ich immer laut denke: "was ist denn das für ein Depp, hoffentlich kommt er nicht zu mir, sie werden schon sehen.“ Tatsächlich kam er immer näher, und ich schaute demonstrativ zum Fenster hinaus. Dies bemerkte er auch, räsonierte dann weiterhin vor sich hin, „ich bin ja nur ein Depp, haben Sie gesagt, alle Damen haben schöne Augen usw.“. Ich ging dann zum Ausgang, wo einige Leute herumstanden, und ich bat sie, dass sie etwas aufpassen sollten, dass er mir nicht nachgeht. Da erhielt ich von einer Frau die Abfuhr: „Sie sind wirklich arrogant, wenn sie einen Menschen, der anders ist, so behandeln, wo bleibt hier die Toleranz?" Eigentlich müsste ich es ja besser wissen, nachdem ich selbst behindert bin. Nun möchte ich aber dazu anmerken, dass ich selbst mir oft so viel Zivilcourage von anderen gewünscht hätte, wenn ich in der Lage derjenigen war, die beschimpft, beleidigt oder angefasst wurde. Dies ist mir in meinem Leben häufig passiert, wobei ich aber keine solch „couragierten“ Zeitgenossen in der Nähe hatte, die so für mich in die Bresche gesprungen wären, wie es diese Frau für diesen Mann getan hat. Als ich einmal in die U-Bahn stieg, schrieen 2 Burschen mit rechter Gesinnung ganz laut: „da hilft nur noch Zyklon B.“ Ich finde so eine Bemerkung schlimmer, obwohl ich gleich gemerkt habe, wess´  Geistes Kind diese Jungs waren und daher die Bemerkung nicht sonderlich an mich heranließ. Ich bin aber häufig schon angefasst oder belästigt worden, wo niemand eingegriffen hat. Auch in meinem Alltag habe ich schon öfter Mobbing erlebt oder bin mit meinen Ansichten alleine dagestanden, wo niemand die Zivilcourage hatte, vor den anderen meine Ansicht mit zu vertreten.

 

Ich kann mich erinnern, dass ich in der Schule bis aufs Blut gequält wurde von meinen sehenden Mitschülern, dass ich aufgrund meiner Wehrlosigkeit auch später im Leben noch häufig nicht zum Zuge kam, wenn irgendetwas ausgeteilt wurde oder man einen Platz suchen musste usw. Wenn dieselbe Mahnung an diese Menschen gegangen wäre, doch mit mir toleranter umzugehen, wie sie mir heute zuteil wurde, hätte ich das verstehen können. Ich frage mich manchmal, ob es so etwas wie eine soziale Hierarchie gibt. Mit mir darf man umgehen, wie es einem beliebt, und selten greift eine ein. Wenn ich aber, da ich eben auch ein Mensch  mit Fehlern bin , obwohl ich einer Randgruppe angehöre , auch selbst einmal eine flapsige Bemerkung über jemanden fallen lasse, der sich ganz offenbar seltsam benimmt, bin ich arrogant und intolerant. Ich finde das heuchlerisch, zumal ich mir sicher bin, dass 99 % aller derjenigen, die in der Bahn saßen, genauso gedacht haben wie ich, und das in 50 % aller Fälle auch jemand einmal laut denkt und eine abfällige Bemerkung über einen merkwürdigen Zeitgenossen fallen lässt. Mir hingegen, die selbst einer Minderheit angehört, gesteht man dies offenbar nicht zu, obwohl man nicht automatisch tolerant wird, nur weil man mit einer Behinderung auf die Welt kommt. Mir sind negative Gefühle  anderen gegenüber genauso wenig fremd wie allen anderen Erdbewohnern auch. Ich kann mich aber nicht erinnern, zumindest im Erwachsenenalter, jemanden einfach aus einer Gruppe ausgestoßen zu haben, nur, weil er anders war, was mir aber sehr häufig passiert ist. So ein Verhalten fände ich dann wirklich arrogant und intolerant.

 

Zudem muss man mir zugestehen, dass ich große Angst hatte, aufgrund meiner Vorerfahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, wo sogar Menschen daneben saßen und zusahen, wie ich belästigt und angefasst wurde, und dann diese "toleranten Zuschauer" auch noch bissige Bemerkungen darüber machten, dass ich nicht auf die Anmache des alkoholisierten "andersartigen Menschen" einging sondern wie jeder andere auch meine Ruhe haben wollte. Ich muss mich also mit jedem abgeben, während andere sich genau aussuchen, mit wem sie es zu tun haben wollen oder nicht. Immerhin habe ich dies schon häufig schmerzhaft erfahren, dass ich aufgrund meiner Behinderung und vielleicht auch aufgrund meiner Art und meines Wesens von anderen nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Selbstverständlich bin ich daher sensibilisiert, da mir ja das gleiche auch schon passiert ist, daher habe ich auch mit meiner Sitznachbarin in der U-Bahn darüber nachgedacht, ob man eventuell die Polizei holen müsse, da der Mann, der auch noch eine Bierflasche in der Hand hielt, offenbar betrunken und verwirrt war. Ich beschied aber dann, dass er harmlos sei, und solange er niemandem etwas täte, nichts unternommen werden müsse. Wo beginnt hier die Toleranz, und wo hört sie auf? Was wäre gewesen, wenn der Mann angefangen hätte, andere zu belästigen? Wer hätte dann als 1. geschrien, dass keiner etwas getan hat?

 

Toleranz bedeutet, andere so zu lassen, wie sie sind. Die Freiheit und die Grenzen des einzelnen hören aber da auf, wo die Freiheit und die Grenzen des anderen beginnen.  Die Aufforderung zum mutigen Einschreiten sollte aber dann auch für alle Menschen gelten. Zivilcourage bedeutet, da einzugreifen, wo jemand wirklich verletzt wird. Das Eingreifen sollte aber nicht selektiv geschehen. Es ist leicht, Zivilcourage zu zeigen einer Frau wie mir gegenüber, die sowieso harmlos ist und sich nicht wehren kann, aber man sollte sich seine Energie dafür aufheben, dort Zivilcourage anzuwenden, wo jemand wirklich anderen Menschen intolerant, verletzend und beleidigend begegnet, also da, wo es wirklich Mut erfordert. Wenn sich also einmal jemand traut, einzuschreiten, wenn eine sozial niedere Person wie ich angegriffen wird, wo es also wirklich Mut erfordert, sich vor so eine Person zu stellen,  dann lasse ich mir auch sagen, dass mein Verhalten diesem armen und verwirrten Mann gegenüber nicht in Ordnung war. Mir aber Arroganz und Intoleranz vorzuwerfen, weil ich mich auch schützen möchte, und niemandem wirklich etwas getan habe, ist ziemlich billig.

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