Sonntag, 28. April 2019

In Schutz nehmen, Verständnis haben


vor einigen Tagen habe ich ein Medikament in der Apotheke abgeholt. Das Medikament, welches mir wegen meiner zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmusstörung verordnet wird, ist ziemlich schwer zu beschaffen, weil es  direkt über die Firma bestellt werden muss. Ein einziges Mal hatten wir Glück, da kam es dann schon am nächsten Tag. Normalerweise dauert es mehrere Tage, bis das Medikament in der Apotheke abholbereit ist.

 

Somit bin ich noch am Gründonnerstag extra zum Neurologen gerannt, um das Rezept noch rechtzeitig vor Ostern zu bekommen, denn das Medikament würde in zehn Tagen auslaufen. Ich dachte, zehn Tage sind nun wirklich eine lange Vorlaufzeit, auch wenn Ostern dazwischen ist. Am Mittwoch den 24. April kam ich dann in den Laden, nein, das Medikament sei noch nicht da, wahrscheinlich sei es über Ostern in der Firma liegen geblieben. Am Vormittag des 25.  war es auch noch nicht da. Somit bat ich die Apothekerin, mir doch unbedingt die Nummer dieser Firma zu geben. Ich versicherte michzuvor  nochmals, ob die Apotheke es wirklich auch am 18. bereits an die Firma gefaxt hatte, natürlich, das hätte man doch freilich selbstverständlich auch so gemacht.

 

Als ich dann in der Firma anrief und denen erklärte, dass ich jedes Mal so lange auf das Medikament warten müsste, meinten die, dass sie niemals länger als drei Tage für die Lieferung bräuchten. Sie schaute dann auch nach, da ich ihr die Postleitzahl der Apotheke nannte, und erklärte mir, das Fax sei erst am 23., also am Dienstag nach Ostern gesendet worden. Dann kann natürlich die Bestellung nicht schon am 24. da sein. Ich hatte nur noch zwei Pillen, und das Medikament darf unter keinen  Umständen abgesetzt werden, denn sonst ist der ganze Erfolg dahin, denn die innere Uhr muss dann wieder mühsam neu gestellt werden.

 

Am 25. erhielt ich dann am Nachmittag einen Anruf von der Apotheke, das Medikament sei dar. Obwohl ich noch zwei Pillen hatte, dachte ich, jetzt, da ich so einen Dampf gemacht hatte, muss ich es natürlich auch schnell abholen, sonst denken die womöglich, erst tritt sie uns in den Hintern, und dann will sie es gar nicht abholen. Somit ging ich los und überquerte die etwas gefährliche Kreuzung. Es gibt keine Ampel, die Straße ist auch sehr schmal, aber die Ecken sind nicht im 90° Winkel, sondern die Häuser sind achteckig gebaut, und somit ist alles etwas unübersichtlich. Ich wollte gerade auf den Gehsteig der gegenüberliegenden Seite treten, da hörte ich ein lautes Hupen, und links neben mir merkte ich, dass ein Auto rückwärts fuhr und mich beinahe am Bein berührte. Dann merkte ich, dass die rechte Fahrertür aufging, und ich schrie ganz laut, was fällt Ihnen ein, hier einfach zurückzusetzen, wenn ich noch hinter ihnen bin. Schließlich hatte ich ja meinen weißen Stock dabei. Es wurde nichts gesagt, sondern das Auto fuhr weiter. Da wir in Deutschland keinen Linksverkehr haben, musste das Auto rückwärts gefahren sein, um womöglich aus der Parklücke zu kommen, und statt auf mich zu achten, oder zu schauen, was hinter dem Auto ist, ist man einfach losgefahren. Zum Glück ist nicht viel passiert.

 

Ich ging in die Apotheke  und wurde gleich beim Eintreten mit Hallo begrüßt, wobei ich dann jedes Mal denke, ich sei die einzige Kundin, denn wenn sie noch beschäftigt sind, reden sie ja normalerweise mit der Kundin, die noch dran ist. Ich habe sonst auch niemanden gesehen, weil ich dazu zu wenig Sehvermögen habe. Somit legte ich sofort los und erzählte der Apothekerin, dass ich beinahe angefahren worden wäre, und die Apothekerin erschrak. Dann erzählte ich mit viel Temperament und Vehemenz, dass ich dem Fahrer ordentlich einen mitgegeben hatte, und was ich gesagt habe. Daraufhin meinte dann die Apothekerin auch noch, nun ja, es passt halt nicht jeder auf. Wäre ich schlagfertig gewesen, hätte ich wahrscheinlich gesagt, ach so, na dann, dann kann man das natürlich entschuldigen. Es nützt mir natürlich nichts, auf meinem Recht zu beharren, dass ich Fußgänger bin und einen weißen Stock habe, denn wenn ich tot bin, hilft mir das schließlich auch nicht mehr, wenn auf meinem Grabstein steht, hier ruht Herr Müller, er hatte Vorfahrt. Aber ich kann es ja nun wirklich nicht sehen, daher kann ich hier nicht pragmatisch vorgehen, und einfach denken, die passen nicht auf, daher tue ich es lieber, wenn mir mein Leben lieb ist. Ich bin tatsächlich auf die Aufmerksamkeit der Autofahrer angewiesen. Daher ärgern mich solche Sprüche, dann auch noch den Autofahrer in Schutz zu nehmen. Nun ja, es passt halt nicht jeder auf, wenn Du dann tot gefahren bist, kann man halt auch nichts machen, man könne schließlich nicht von jedem erwarten, dass er immer aufmerksam ist, wenn er gerade den Rückwärtsgang  einlegt.

 

Am nächsten Tag rief dann die betreuende Schwester von der Organisation an, die die Patienten begleitet, welche dieses neue Medikament bekommen. Ich erzählte ihr, dass die Beschaffung des Medikaments zu schwierig ist, denn ich hatte schon am 18. April das Rezept eingereicht, das Medikament ließ so lange auf sich warten, und als ich dann am 25. Recherchen bei der Firma anstellte, hatte sich doch tatsächlich herausgestellt, dass die Apotheke das Rezept erst am 23. dorthin gefaxt hatte. Sie meinte, ihre Firma würde das immer rechtzeitig liefern, das könne keine zehn Tage dauern, aber sie hätte schon häufiger gehört, dass Apotheken das Rezept erst einmal liegen lassen und dann zu spät losschicken, nun ja, das seien halt auch nur Menschen. Schon wieder wurde an mein Verständnis appelliert.

 

Ich sagte, aber die Apotheke weiß, wie schwer das Medikament zu bekommen ist, wie lange es dauert, wie umständlich es ist, wie dringend ich es brauche, und sie haben auch mitgekriegt, wie schwer es mir fällt, dann auch noch kurz vor Ostern zum Arzt zu rennen und dann zu ihnen zu kommen, um das  Rezept abzuliefern, denn die Apotheke kennt mich ja. Da meinte sie dann auch noch, und da erwarten sie dann, dass sie das auch pünktlich tun. Das hörte sich so an, als sei das eine ganz exotische und völlig unbotmäßige und völlig überzogene und befremdliche Erwartung. Ich meinte, natürlich, zurecht. Dann stimmte sie mir notgedrungen zu. Ich finde es fürchterlich, dass ich immer um Empathie und Zustimmung betteln muss.

 

Natürlich haben die anderen eine große Fantasie, sich lebhaft vorzustellen, wie es im Geschäftsleben zugeht, und dass die Menschen nicht immer die Zeit haben, auf spezielle Bedürfnisse von Menschen mit speziellen Einschränkungen einzugehen. Man hat aber nicht die Fantasie, sich vorzustellen, wie schwer es für Menschen mit speziellen Einschränkungen ist, sich diesen Gegebenheiten anzupassen. Somit besteht hier ein Ungleichgewicht. Man will natürlich damit auch zeigen, wie umsichtig und objektiv man ist, und wie viel man vom Alltagsleben und von der Wirtschaft versteht, und man will mich zu einem trotzigen anspruchsvollen Kind degradieren, dass man noch erziehen muss, und dem man die andere Perspektive immer wieder mal aufzeigen muss. Bei richtigen Erwachsenen kann man sich hingegen erlauben, auch mal mit demjenigen mit zu schimpfen und zu sagen, da haben Sie recht, so geht das eigentlich nicht. Bei Kindern meint man, man müsse denen schon noch die andere Seite nahebringen, denn schließlich dürfe man sie nicht zu sehr verwöhnen und müsse ihnen noch was beibringen. Und ich gehöre halt leider mein Leben lang zu den Kindern.

 

Ich weiß durchaus, was man erwarten kann und was nicht, aber ich stehe damit immer ganz alleine da. Auch bin ich kein trotziges und unreifes Kind, das nicht in der Lage ist, die Perspektive seiner Umwelt zu verstehen. Es geht auch bei Leibe nicht darum, dass jemand mir beipflichten möge, dass diese Menschen einfach blöd und unbedacht und rücksichtslos und gemein sind. Es geht aber einfach mal darum, meine Lebensrealität zu würdigen und auch mal Verständnis für meine Seite zu haben, und sich genauso lebhaft und genauso  empathisch in meine Situation hinein zu denken, wie man es auch in die andere Richtung tut.

 

Ich fürchte, wenn mich mal jemand vergewaltigt, würde wahrscheinlich auch noch jemand sagen, nun ja, solche Idioten gibt es eben nun mal  überall, es kann sich ja  nicht jeder zurückhalten, der hatte halt auch mal ein Bedürfnis. Ich hab ehrlich gesagt nicht länger Lust, immer wieder meine eigene Vernachlässigung, Missachtung oder schlechte Behandlung verstehen zu müssen.

 

Als mich einmal jemand ganz rüde zur Seite stieß und mich auch noch anschrie, pass doch gefälligst auf, lass mich halt vorbei, oder als jemand mich zur Seite schubste mit den Worten, oh Mann, geht das nicht schneller, sagen meine Begleiter immer, ich müsse das doch verstehen, es könne doch nicht jeder mit Behinderten umgehen. Dass man das generell bei Menschen nicht tut, ob sie nun behindert sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Meine Assistentin erklärte mir, ihre Freunde fänden es merkwürdig, dass sie einen Beruf ergriffen hätte, wo man mit Behinderten arbeitet, denn schließlich könne das nicht jeder. Ich sollte also doch verstehen, dass Behinderte für andere Menschen etwas Fremdes sein, und dass andere daher manchmal ein Verhalten an den Tag legen würden, dass eben nicht angemessen sei, und nicht jeder wisse doch, wie man mit behinderten umgeht Nicht jeder  sei halt so sensibel. .

 

Bei mir ist wirklich das Ende der Geduld erreicht. Und ich möchte eben auch, dass meine Perspektive gewürdigt wird, was nichts mit Parteilichkeit sondern mit absoluter Neutralität zu tun hat. Unter dem Deckmantel der Neutralität wird mir meistens jegliche Empathie verweigert und  prinzipiell  nur die andere Seite  in Schutz genommen,  so  a  la  advocatus diaboli.

 

Wenn ich zu einer Freundin sage, wie schwierig ist das für mich, wo sich jetzt wieder die Geldautomaten geändert haben, damit klarzukommen, wollte ich ihr lediglich meine Lebensrealität schildern.  ich wollte einfach nur ihr Mitgefühl und ihre Empathie, was jetzt wieder viele Zeitgenossen als Mitleidheischen auffassen. Das tut nämlich auch manchmal gut. Und es zeigt den anderen auch, dass sie manchmal einfach auch nicht wissen, dass bei unsereinem vieles an ganz vielen Kleinigkeiten hängt. Mir hätte es gereicht, wenn sie einfach nur gesagt hätte, Mensch, da sieht man mal, an was das alles hängt, und was ihr alles zu beachten habt, das  können wir uns oft gar nicht vorstellen… . Stattdessen hielt sie mir dann einen Vortrag darüber, dass die Informatiker es einfach noch nicht geschafft hätten, alle Automaten umzustellen, und die hätten doch auch eine Freizeit, und einen Alltag, und die könnten doch auch nicht alles machen, und ich müsse das doch verstehen. Sie wollte mir natürlich damit zeigen, wie Welt gewandt sie ist, und was sie alles aus dem Arbeitsleben weiß, und wie viel Einblick sie in die Vorgänge von Softwareentwicklung hat, wer weiß, ob das so stimmt. Ich stand da und meinte, ich möchte doch einfach nur Dein Mitgefühl haben, aber ich habe nicht ihr Herz erreicht. So geht dass mir häufig, ich glaube, das Herz des Lesers würde ich damit auch nicht erreichen, weil das mehr so wirkt, als ob ich jammern würde. Einmal  tröstend in den Arm genommen  zu werden hätte mir  gereicht.

 

Natürlich ändert sich dadurch nichts, wenn mir andere sagen, ja, das ist schwierig, aber es tut einfach mal gut. Außerdem weckt es auch das Bewusstsein der anderen, wo wir Probleme haben, und wo vielleicht einige Dinge geändert werden müssten. Es gibt auch einen Einblick in unseren Alltag, wodurch vielleicht manche sich dreimal überlegen, ob sie sich jetzt schon wieder vor mich hinstellen und darüber jammern, dass sie schon wieder eine neue Lesebrille brauchen. Oder es gibt vielleicht auch einen Einblick darin, welche Anstrengungen jemand mit Behinderung vollziehen muss, und dass es vielleicht daher nicht immer angebracht ist, mir einen Vortrag darüber zu halten, dass man doch etwas geduldiger, gelassener  und stärker sein müsse, und dass man doch auch manchmal flexibel sein müsse und Dinge hinnehmen müsse, denn genau das tun wir ja schließlich  schon den ganzen Tag. Genau das möchte ich hier mit diesen Beispielen belegen, damit andere auch sehen, wir sitzen nicht nur faul da und lassen uns bedienen und jammern über unser Schicksal, sondern wir müssen den Löwenanteil der Anpassung  und  der Alltagsbewältigung  eigentlich  noch immer  alleine leisten. Das gilt auch dann, wenn ich erzähle, das vor meinem Haus eine riesengroße Baustelle ist, und es für mich nahezu gefährlich ist, den anderen Weg über die Straße zu nehmen. Die meisten erklären mir dann aber, dass sie auch eine Baustelle vor der Haustür hätten, und dass das einfach lästig ist. Es hätte mir einfach mal gut getan, wenn ich mal jemanden gehabt hätte, der mir einfach mal sagt, ich glaube Dir schon, dass das schwierig ist, wenn man nicht sieht. Das hat nichts mit bemitleiden oder Bedauern zu tun, sondern einfach nur damit, die Schwierigkeiten und Herausforderungen eines anderen Menschen zu würdigen und anzuerkennen und seine  Ungeduld  oder  Ungehaltenheit  über permanente   im Alltag Überforderung  auch mal  in einem anderen Licht zu sehen.

 

Fakt ist aber nun mal, dass wir uns der Gesellschaft anpassen müssen und nicht umgekehrt, denn ich brauche die anderen, die anderen brauchen aber mich nicht. Drum muss ich die anderen verstehen aber nicht umgekehrt. Daher soll ich eben Verständnis für unachtsame Autofahrer haben, oder ich muss verstehen, dass andere eben auch nur Menschen sind, wenn sie sich nicht um die Lieferung meiner Medikamente kümmern, auch wenn sie wissen, dass das mit Folgen für mich verbunden ist. Und genauso muss ich halt auch Verständnis haben, dass es Menschen gibt, die Berührungsängste mit Behinderten haben, und einen deswegen den ganzen Tag anfassen, ohne Vorwarnung am Arm ziehen, beiseite schieben oder in die Seite knuffen, wenn sie nicht schnell genug vorbeikommen.

 

Das ist dann wohl mein  Grad von Reife, meine Empathiefähigkeit, meine Lebenserfahrung oder mein Einblick in die Welt, dafür  immer  Verständnis  zu  haben.  Alles andere wäre unreif, unbotmäßig, trotzig, überzogen , unflexibel, egoistisch, exzentrisch , egozentrisch und uneinsichtig. Und diese Eigenschaften muss man bei mir einfach mal endlich  weg erziehen, indem man mir immer wieder die Perspektive der anderen klarmacht. Und ich soll dazu  natürlich dann auch noch verstehen, dass die anderen sich wiederum  natürlich  nicht in meine Perspektive hinein denken können, dass ihnen die Zeit fehlt sowie das Einfühlungsvermögen und die Sensibilität. Denn man braucht schon eine gehörige Portion an Sensibilität, damit man jemanden nicht einfach beiseite schubst oder sich mitten im Gespräch  ohne  Vorwarnung  mal eben wegdreht und abwendet, weil man daran denken muss, dass der Blinde  ja nicht merkt , wenn man geht, während er noch seelenruhig  weiter spricht. Und schließlich, wie man mir immer wieder sagt, ganz und hundertprozentig kann man einen anderen ja sowieso nie verstehen, und genau das ist der Grund, weshalb ich dieses Verständnis und Einfühlungsvermögen und diese hohe Sensibilität mir gegenüber nicht erwarten darf. Zehn Prozent würden  mir auch schon reichen.

 

Mir hat mal ein Arzt gesagt, ich hätte eine zu hohe Erwartung in die Welt, ich hätte ein verschobenes Weltbild, und ich müsse das ändern. Leider hat das bisher noch keinen Erfolg gezeitigt.

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