Dienstag, 15. März 2016

Man ist so krank, wie man sich fühlt

In der letzten Ausgabe des Diatra- Journals wurde über ein bestimmtes Pflegemodell berichtet, dass das Leben über die Krankheit heben soll. Hierbei wurde die an der Dialyse alltägliche Situation geschildert, dass ein Patient kommt, und an seinen Werten abzulesen ist, dass er sich nicht an die Vorschriften gehalten hat, sodass er vom Pflegepersonal ermahnt wird, und es zu Unstimmigkeiten kommt. Nachdem ich nun fast zehn Jahre an der Dialyse bin, erlaube ich mir hier, einige meiner Gedanken hierzu darzulegen. Hierzu möchte ich zunächst einmal eine Begebenheit schildern, die mir jüngst im Krankenhaus widerfahren ist. Da ich aufgrund eines nicht mehr einzustellenden Bluthochdrucks ein Medikament erhielt, das zu extrem starkem Haarwuchs führte, habe ich dieses Medikament nach Rücksprache mit meiner Ärztin abgesetzt und bin demzufolge mit einer hypertensiven Krise über Silvester im Krankenhaus gelandet. Dort erhielt ich Kost, die komplettsalzlos war. Ich sprach den Dialysearzt auf diese Kost an, denn ich hatte folgendes von meinem früheren behandelnden Professor gelernt: leben sie so, wie sie normalerweise leben, wir bauen die Therapie darum herum, eine salzlose Ernährung verringert den Blutdruck nur um ein paar MMHG, die Chemie macht dies zuverlässiger. Ich fragte also den Arzt, ob ich nicht, die ich ja die Dialyse-Diät sehr gut kenne, nicht einfach voll Kost erhalten kann, und dann das weglassen dürfe, was ich nicht essen soll. Zuweilen bereitet mir das, was in Krankenhäusern unter Dialyse-Kost verstanden wird, nur mehr ein Kopfschütteln. Der Arzt erwiderte folgendes: „Trinken Sie Alkohol? Rauchen Sie? Für den einen ist es schwer, auf Alkohol und Nikotin zu verzichten, der andere findet es schwer, ohne Salz zu leben.“ Ich versuchte vergeblich, dem Arzt zu erklären, dass es sich bei Nikotin, auf welches ich schon seit Jahren verzichte, und Alkohol um Suchtmittel handelt, wohingegen Salz ein Geschmacksträger ist, der zu einer guten Lebensqualität beiträgt. Ich sagte dem Arzt, dass ich schon zehn Jahre an der Dialyse bin, dass ich fast blind bin, und dass sich mein Handlungsradius so weit eingeschränkt hat, dass das Essen für mich als einer der wenigen Genüsse, der mir noch geblieben ist, einen hohen Stellenwert hat. Hierauf bekam ich die lapidare Antwort: „das Leben ist nun mal ungerecht.“ Ich erklärte dem Arzt, dass ich außerdem nur 1 l am Tag trinken würde, woraufhin er mir sagte: „da geht noch weniger." Als ich dem Arzt erklärte, dass ich zuweilen nur 1 l mit an die Dialyse bringe, murmelte er: „wenigstens hier sind sie cpmpliant". Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich diesen Fachausdruck als medizinische Fachübersetzerin kenne. Zu Deutsch hieß dies, er hielt mich für jemanden, der sich überhaupt nicht an irgendwelche Vorschriften hält und seine Medikamente nicht einnimmt, und der allenfalls ein bisschen auf die Trinkmengenbeschränkung achtet, wenn auch nicht in dem Ausmaße, in welchem ich es tun könnte. Ich fühlte mich durch diese Unterhaltung wenig gewertschätzt, meine ohnehin schon bestehenden Einschränkungen wurden nicht gewürdigt, und dies von einem Menschen, der selber diesen Einschränkungen nicht unterliegt. Nun kann dieser Arzt an meiner Situation nichts ändern. Dennoch würde ich mir wünschen, dass Ärzte positiv und wertschätzend darauf reagieren, wie wir Patienten unsere Diät, was ja auch Lebensweise heißt, im Alltag umsetzen, und wie sehr wir uns Mühe geben. Allen Modellen zum Trotz, viele Dinge sind nicht eins zu eins umzusetzen, aber mit einer gewissen Empathie , gesundem Menschenverstand und tagt könnte man zum Beispiel sagen: „so, wie sie es machen, machen sie es schon ganz gut. Wir wissen, dass es nicht einfach ist, und dass dieses Leben sehr viele Einschränkungen hat. Wir würden Ihnen wünschen, dass sie mehr Möglichkeiten hätten, doch ist dies im Moment leider nicht der Fall.“ Dies würde zum einen ausdrücken, dass der Schweregrad der Situation überhaupt wahrgenommen wird, zum anderen aber auch, dass dieser Umstand nun einmal nicht zu ändern ist, dass aber eine emotionale Begleitung vorhanden ist. Ich höre auch von anderen Patienten, dass häufig Sätze fallen wie: „das Leben ist kein Ponyhof, das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Diese Sätze, die von Menschen dahingesagt werden, die unsere Situation zwar kennen, jedoch niemals vollständig in unserer Haut stecken und wissen, wie es wirklich ist, sollen zwar zeigen, dass man sich im Leben nicht alles aussuchen kann, doch wird hier so getan, als ob wir als Patienten uns nur die Rosinen aus dem Leben herauspicken wollten, wobei es hier nur darum geht, etwas mehr Lebensqualität zu haben. So musste ich mir zum Beispiel von einer Krankenschwester einmal anhören: „Sie können froh sein, dass sie nicht in Südamerika leben, dort gibt es nur ganz wenig Dialyse, dort wären sie schon längst gestorben.“ Wenn ein überleben der Mindeststandard ist, und man nicht mehr erwarten darf und daher keine Kritik äußern darf, weil man ja froh sein muss, überhaupt noch da zu sein, ist dies nicht der Sinn der Sache. Häufig werden Vergleiche angestellt mit denen, die es ja noch viel schwerer haben, oder mir wird häufig von ganz gesunden Menschen eingeredet, es ginge ihnen genauso wie mir. Ich persönlich würde mir zum Beispiel wünschen, dass die Faktoren, die das Leben an der Dialyseschwächen, ehrlich benannt und anerkannt werden und nicht als alltägliche Zipperlein bagatellisiert werden. Dies bedeutet nicht, dass man sich bemitleiden lässt. In diesem Artikel, der im letzten Heft abgedruckt war, stand auch, dass man die Ressourcen des Patienten schonen soll, damit er Kraft hat für das, was er wirklich tun will. Ich finde es richtig, dass man seine Ressourcen einteilt und sich auch einmal da helfen lässt, wo man zwar selbst noch zurechtkommt, wo man aber Ressourcen für schönere Dinge sparen kann. Dies bedeutet nicht, dass man sich auf Kosten des Hilfspersonals ausruht und sich bedienen lässt. Dies bedeutet, dass man seine vorhandenen Kräfte sinnvoll einteilt und sich nicht aufreibt an Dingen, die ein anderer wesentlich schneller tun kann. So erlebe ich es häufig im Alltag, dass ich allem und jedem hinterher laufen darf, meine Medikamente organisieren muss, Arztbesuche erledigen muss, hinter Überweisungen her rennen darf oder irgendwelche Genehmigungen beantragen muss. Ich halte dies für gesundheitsschädlich. Als ich neulich mit meiner gesetzlichen Betreuerin darüber sprach, meinte sie, ich solle all dies tun, was ich noch könne. Mein Argument, dass dadurch meine Gesundheit noch mehr leidet, wenn ich mich bis zum Letzten aufreibe, blieben ungehört. Hier wird häufig ein erzieherischer Anspruch getätigt, als müsse man den Patienten fordern, damit er nicht in Lethargie verfällt. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass voll gesunde Menschen auch nicht immer all das tun, was sie tun könnten, und ihre Ressourcen auch nicht immer bis auf den letzten Tropfen ausschöpfen. Man denke nur daran, wie häufig das Auto verwendet wird, obwohl man die paar Meter zum Zigarettenautomat auch laufen könnte. Würde man hier die Forderung erheben, das tun zu müssen, was man auch wirklich kann, würde die Umwelt erheblich geschont werden. Ich finde es richtig, dass jeder das tut, was er tun kann, und was er aber auch tun möchte, wozu meines Erachtens auch viel Bewegung gehört. Man sollte dies aber auch nicht bis zur Erschöpfung treiben. Als ich an die Dialyse kam, habe ich mir gewünscht, zwischen den Dialysen im Intervall ein gewisses Wohlbefinden zu erreichen. Ich dachte mir, ich bin nicht krank, sondern ich bin bedingt, also konditionell gesund. Unser Nephrologe sagte zu seinem Abschied, als er in Rente ging einmal zu uns allen: „fühlen Sie sich bitte nicht krank, sie haben hier eine Kondition, bei der sie bestimmte Dinge tun müssen, bei der sie dreimal die Woche an die Dialyse müssen. Ansonsten leben sie ihr Leben ganz normal.“ Wenn ich sage: „ich bin krank,“ Dann tue ich dies manchmal, wenn ich die Grippe habe. Wünschenswert wäre für mich, dass ich sonst nicht denken müsste, dass ich krank bin. Doch fühle ich mich zwischen den Dialysen nicht, wie ich es mir sehnlichst gewünscht hätte, gesund, sondern ich merke, wie meine Kräfte bis zur nächsten Dialyse nachlassen. Mein ohnehin eingeschränktes sehen wird immer schlechter, die Flimerskotome vor den Augen nehmen zu, ich fühle mich immer mehr vergiftet, meine Muskeln werden schwächer, ich werde immer müder und kann immer schlechter denken. Anders als bei anderen geht es mir nach der Dialyse wieder hervorragend, ich fühle mich frisch und ausgeruht und sauber. Das lange Intervall ist für mich fürchterlich, ich kann nur durch die Einschränkung meiner Nahrungsaufnahme verhindern, dass ich aufgrund der Vergiftung extremen Durst bekomme. Niemand weiß, woher das kommt. Eigentlich hatte ich die Dialyse als meinen neuen Job angesehen. Das ist halt jetzt meine Arbeit, so wie andere zu ihrer Arbeitsstelle gehen. Wenn andere dies so nennen, stört mich dies, obwohl ich dies selbst oft so mache. Aber der Unterschied zu einem Job ist der, dass man bezahlt wird, dass man Urlaub hat, und dass man keine medizinische Behandlung bekommt, bei der man sich auf einmal anders fühlt. Die Menschen, die mich gut kennen, sehen mir im Gesicht an, dass ich wieder zur Dialyse muss, da mein Gesicht dunkler und aufgeschwemmt ist, und da man mir ansieht, dass es mir nicht gut geht. Nach der Dialyse sagt mir jeder, ich sehr wesentlich erholte aus. Dies fällt allerdings weder den Ärzten noch dem Pflegepersonal auf. Aber es deckt sich mit meinem Empfinden, daher bin ich froh, dass es Menschen gibt, die dies bemerken. Der Idealzustand eines Dialysepatienten wäre, eben diesen Job zu verrichten, dass man da eben eine gewisse Kondition hat, dass man sich aber ansonsten, wenn man sich weitestgehend hält, ganz gut fühlt. Dann ist man, wie ich es nenne, konditionell gesund. Dann kann man mit mehr oder weniger großen Einschränkungen gut durchs Leben kommen. Ich finde es übertrieben, jede Diätvorschrift bis auf das Kleinste einzuhalten, sich nichts zu gönnen und immer nur zuschauen, dass man möglichst trocken an die Dialyse kommt. Ich mache dies rein nach Gefühl, denn wenn ich mir jedes Mal denke, du darfst nur 1 l trinken, bin ich komplett auf diese Zahl fixiert und habe noch mehr Durst. Ich trinke lieber regelmäßig, und so kommt auch fast immer mehr oder weniger dieselbe Menge zustande. Ich finde, es ist wichtiger, eine hohe Dosis an Phosphatbindern zu nehmen, anstatt sich mit Diät zu kasteien. Ich esse auch sehr viele kaliumhaltige Dinge wie obst, ohne das ich schlichtweg nicht leben könnte, halte mich aber im langen Intervall zurück. Ich glaube, wenn man einfach ein Gefühl für sich und seinen Körper entwickelt, nicht allzu streng ist, aber auch nicht alles schleifen lässt, findet jeder einen Weg, wie er mit sich und seiner Erkrankung umgehen kann. Dieser anfangs erwähnte Arzt im Krankenhaus sagte mir dann auch noch, er wünsche mir ein gesundes neues Jahr. Ich dachte mir, an seiner Sensibilität müsste man noch etwas arbeiten. Als ich ihn darauf hinwies, dass ich nicht gesund bin, meinte er: „das, was eben geht.“ Das, was eben ging, war in diesem Moment auch aufgrund seiner Diätvorschriften nicht sehr viel. Ich bin nun nicht gerade die Experten, wenn es darum geht, wie man Konflikte zwischen Arzt und Patient vermeidet. Leider bin ich ein aufgeklärter Patient, da ich alleine schon aufgrund meiner Ausbildung als Übersetzerin mit Ergänzungsfach Medizin und aufgrund der Vorerfahrungen durch ein ebenfalls erkranktes Familienmitglied mehr weiß, als manchem Arzt lieb ist. Das wichtigste wäre, wenn die Ärzte das Wissen ihrer Patienten respektieren würden, und wenn sie darauf achten, dass Chroniker häufig anders sind als Menschen, die ein akutes Problem haben. Denn wir kennen unseren Körper gut und wissen, was uns gut tut und was nicht. Wir können mit großer Sicherheit vorhersagen, wie wir auf was reagieren. Wir wissen auch, wo wir entgegen der Lehrmeinung manchmal eine Ausnahme sind. Wir haben häufig ein gutes Gefühl dafür, wann sich etwas im Körper verändert und nicht mehr stimmt. All diese Dinge sollten von einem Arzt oder auch von den Krankenschwestern gewürdigt und willkommen geheißen werden. Denn dies sind alles Dinge, die die Zusammenarbeit erleichtern und nicht erschweren. Alles in allem würde ich mir wünschen, dass die Situation, in der wir uns befinden, ohne Pathos und Larmoyanz, aber dennoch realistisch als nicht leicht anerkannt wird, dass unsere Bemühungen aber auch unsere Eigenkompetenz und Expertise positiv aufgenommen wird, dass die Wünsche, wie wir leben möchten, mit eingebaut werden, und dass auch Raum dafür bleibt, einmal etwas auszuprobieren und die Grenzen auszuloten, ohne, dass dies als mangelnde Therapietreue angesehen wird. Jeder Mensch ist anders, und die meisten Menschen kennen sich eben selbst sehr gut. Das wichtigste ist, hier ernst genommen zu werden.

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