Dienstag, 1. März 2016

Es ist da

Es ist da! Das Gutachten ist gekommen, und ich war überrascht, dass es – entgegen meiner sonstigen Erwartungen – im Großen und Ganzen recht zufriedenstellend ausgefallen ist. Meine Befürchtungen hatte ich ja in dem anderen Blogeintrag geschildert. An manchen Stellen hat er etwas übertrieben, aber dies ist ja besser, dann kommen die Sachen auch deutlich heraus. Auch hat er manche Ereignisse, die nur einmal stattgefunden haben, als regelmäßig dargestellt. Manche Orte haben nicht ganz gestimmt, und manche Schilderungen, die sich nur auf bestimmte Zeiten im Leben bezogen, wurden auf noch andere Zeiten davor ausgedient. Zum Beispiel war es in der Sehbehindertenschule mit der Hackordnung und dem Piesacken nicht so schlimm, wie es sich in dem Gutachten anhört. Indirekt beschreibt es aber schon, was auch schon in der Sehbehindertenschule falsch lief. Was dort wirklich schlimm war, was ich aber nicht sehr deutlich gemacht hatte, war, dass die Lehrer mein eingeschränktes Gesichtsfeld überhaupt nicht bemerkt hatten, und dass damals auch noch nicht bekannt war, dass ich auch mit der Feinmotorik Probleme habe. Wenn mir etwas herunter fiel, und ein anderer es mir aufhob, da ich von oben mit meinem kleinen Gesichtsfeld den Boden besser überblicken konnte und mich daher nicht bückte, hieß es, die Prinzessin will, dass man ihr alles aufhebt. Wenn ich mit den Händen am bodengetastet habe, um etwas zu finden, wurde ich von den Erziehern in ihrem üblichen Singsang ermahnt: „schauen, nicht fühlen!“ Somit wurde mir mein Tastsinn abgewöhnt, anstatt mir wirklich effektive Techniken beizubringen, wie ich am besten auf dem Boden herumtasten kann. Tasten wurde als negativ angesehen. Als ob schauen etwas Besseres wäre, und als ob dies anzustreben sei, egal, ob man schauen kann oder nicht. Wenn ich irgendwo dagegen lief, oder wenn ich jemanden anrempelte , hieß es, ich würde denken, Platz da, jetzt komm ich. Meine Orientierung war sehr schlecht, und manchmal hatte ich einen Gegenstand, der schon jahrelang dort stand, noch nie gesehen, da er nie zuvor in meinem Gesichtsfeld erschienen war. Kunst, Sport und Handarbeit waren der blanke Horror. Hatte ich früher vor meiner Schulzeit leidenschaftlich und fast schon wie am Fließband gemalt, hieß es in der Sehbehindertenschule, dass meine Bilder hässlich seien. Ich sei ja mit einer vier noch gut bedient, hieß es einmal. In meinem Zeugnis stand, dass ich in Turnen und Handarbeit „motorisch gehemmt“ sei. Inhaltlich war ich immer gut in der Schule, aber diesen ganzen äußeren Kram zu bewältigen, die Striche sauber zu ziehen, die Materialien ordentlich zu halten, immer alles dabei zu haben und auch noch selber bestimmte didaktische Materialien zu basteln, war für mich die größere Herausforderung. In der dritten Klasse hatten wir dann einen Lehrer, der merkte, dass ich ein eingeschränktes Gesichtsfeld hatte, was mir selbst ja gar nicht klar war, da ich ja gar nicht wusste, wie andere sehen, und wo mein Defizit eigentlich lag. Ich wusste nur, dass ich einfach schlecht sah. Ich wunderte mich nur immer, warum Leute mir sagten, da ist es, wobei ich damit nie etwas anfangen konnte, da ich ja gar nicht gesehen hatte, dass die Leute die ganze Zeit wie verrückt in eine bestimmte Richtung deuteten. Ich wunderte mich immer, wie andere aus dem Wörtchen „da“ irgendeine Information herauslesen konnten. Die deutende Hand mit dem Zeigefingerweiher jedes Mal außerhalb meines Gesichtsfeldes. Dieser Lehrer merkte auch als erstes, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte. In der vierten Klasse hatten wir dann einen Lehrer, der hätte gut und gerne als Dr. Mengele der Blindenpädagogik durchgehen können. Er pickte sich immer die Schwächen der Schüler heraus. Als er merkte, dass ich sehr langsam war und sehr vorsichtig lief, um nicht anzustoßen, trieb er mich immer an, schneller durch die Klasse zu laufen, wenn ich etwas holen sollte. Er schimpfte, ich sei langsam und ungeschickt, seine vierjährige Tochter könne dies besser als ich. Jedes Mal war ich die letzte, die ihre Schultasche gepackt hatte und aus dem Klassenzimmer ging, und so sagte er auch jedes Mal: „Wer ist nun wieder mal die letzte.“ Er sagte auch zu den Schülern, „du bist der letzte Penner, du Trottel.“ Wenn jemand an der Tafel etwas nicht konnte, sagte er „tja, schwach!“ Er machte dauernd Witze auf Kosten der Schwächen der Schüler. Die einzige, die er in Ruhe ließ, war meine Freundin. Wenn die eine schlechte Arbeit geschrieben hatte und weinte, tröstete er sie noch. Einmal kam er zu mir im Pausenhof, legte seinen Arm um mich und fragte: „Warum bist du denn immer so aufgeregt?“ Ich dachte mir, wenn du das nicht kapierst, dann hat es auch keinen Sinn, dir das zu sagen, wenn du das nicht selber merkst. So sagte ich ihm nicht, warum ich „immer so aufgeregt" war. Ich erinnere mich, dass ich einmal dasitzen musste und üben musste, mit dem Füllfederhalter und dem Lineal einen geraden Strich zu ziehen, wobei sich jedes Mal ein Klecks bildete, wenn ich das Lineal weg nahm, da die Tinte verschmierte. Wenn die ganze Klasse nach draußen ging, schimpfte er mich schon, da ich wieder nicht wusste, wo wir gerade hergekommen waren, weil meine räumliche Orientierung so schlecht war. Dann zwang er mich, in irgend einen Laden zu gehen und etwas einzukaufen, oder im Telefonbuch in der Telefonzelle etwas nachzusehen. Ich konnte mich nirgendwo einhängen, daher fiel es mir sehr schwer, der ganzen Gruppe zu folgen, da hierfür mein Gesichtsfeld zu klein war, gleichzeitig auf meinen Weg zu achten und zu schauen, wo die anderen jetzt waren. Bei einem Ausflug auf die Burg zwang er mich, nach oben zu schauen, obwohl ich völlig geblendet war . „Jetzt guck doch dahin, Mensch!“ Auf dem Heimweg haute mir jemand versehentlich die Autotür ans Hirn, als ich aussteigen wollte, und keiner half mir. Nachdem meine Erzieherin, die eine sehr nette und idealistische Person war, mit ihm gesprochen hatte, sagte er ihr, er wolle mir beibringen, selbstständiger zu werden. Ich fand diese Methoden immer ziemlich fragwürdig. Außerdem ahmte er laufend meinen Dialekt nach. Ich war in dieser Schule die Behinderte unter den Behinderten, da ich zusätzlich noch einige andere nicht sichtbare Behinderungen hatte. Mit den nur sehbehinderten Schülern hatte ich daher große Schwierigkeiten, mitzukommen oder mich durchzusetzen. Geistig war ich den meisten wahrscheinlich schon überlegen, aber alles andere ließ zu wünschen übrig. Außerdem konnte ich die kleinste Schrift lesen und schrieb auch sehr klein zum Ärgernis dieses Lehrers, während ich aufgrund meines stark konzentrisch eingeschränkten Gesichtsfeldes dann wiederum über jedes Hindernis stolperte. Im Sportunterricht hatten wir teilweise ziemlich harte Lehrer, einer veranstaltete einen regelrechten militärischen Drill. Ich hatte vor jeder Sportstunde Bauchkrämpfe. Ich war meistens mit den lernbehinderten Schülern zusammen, da ich hier die Fittere war. Eine nicht Lernbehinderte und nur sehbehinderte Freundin ist mir bis heute geblieben. Ich hätte mir gewünscht, einen Sportunterricht nur für so lahme Menschen wie mich zu haben, und ich hätte mir gewünscht, dass statt Kunst und Handarbeit nur Fächer gegeben würden, wo man neue Dinge lernt. Auf jeden Fall denke ich mir im Nachhinein, ich hätte genauso gut in eine normale Schule gehen können, da in der Grundschule die Kinder noch nicht so grausam sind wie in der Pubertät, und ich dann vielleicht an meinem Heimatort mehr Freunde gefunden hätte, und da man in einer normalen Schule vielleicht nicht so viel von einem fast blinden Kind verlangt hätte. In der Sehbehindertenschule glaubten die Lehre zu wissen, was sie einem abverlangen und zumuten könnten. Dies war aber mehr fordern und nicht fördern. Dann hätte ich auch nicht jede Woche 3 Stunden hin und 3 Stunden zurück mit dem Bus mit der Kirche ums Dorf herum fahren müssen, damit sämtliche behinderten Kinder der Umgegend eingesammelt und in Sonderschulen gekarrt werden. Im Bus konnte ich mich kaum mit jemandem unterhalten, da die meisten gehörlos oder sprach behindert waren. Am Anfang haben mich diese unartikulierten Laute total erschreckt. Dauernd lief dieselbe Kassette mit denselben alten Schlagern. Der Bus roch nach Benzin und Sitzen. Da ich in meinem Leben genug Bus gefahren bin, bin ich nun froh, wenn ich in keinen Bus mehr einsteigen muss. Das waren die Dinge, die am schlimmsten waren, während ich in Grund- und Hauptschule gewesen bin. Schrecklich fand ich auch, dass wir so wenig getröstet wurden, und das man mit den Erziehern nicht schmusen durfte. Wegen jedem Dreck wurden wir um 6:00 Uhr oder 7:00 Uhr ins Bett geschickt als Strafe. Die Erzieher gaben sich redlich Mühe, die neuesten pädagogischen Erkenntnisse anzuwenden, damals galt aber noch eher eine gewisse Konditionierung, wobei mit Tokens gearbeitet wurde, das bedeutete, wenn man etwas, was man sich abgewöhnen sollte, nicht tat, bekam man Pluspunkte, während man keine Kärtchen bekam, wenn man seine negativen unerwünschten Verhaltensweisen weiter pflegte. Dann konnte es auch schon mal vorkommen, dass man eben nicht mit zum Pizza essen durfte. Pädagogisch hatten die Erzieher sicher viel geleistet, aber es fehlte absolut die Nestwärme. Ich lag oft abends im Bett und musste meine Sorgen mit mir alleine abmachen. Man war sehr früh emotional auf sich alleine gestellt. Selbstständigkeit gab es zwar für mich wenig, aber in emotionaler Hinsicht musste ich früh selbstständig werden. Das, was mir auf dem Gymnasium in der Regelschule passiert ist, wurde in dem Gutachten gut beschrieben. Dies habe ich ja auch hier schon hinlänglich geschildert. Bei den Tests kam heraus, dass ich angeblich eine geringe Frustrationstoleranz hätte. Dies stört mich sehr, da ich wahrscheinlich schon in den ersten drei Jahren so viel Frustration abgekriegt habe, wie ein anderer in seinem ganzen Leben nicht. Wenn man dauernd die Erfahrung macht, irgendetwas nicht zu können, für alles immer zehnmal ansetzen zu müssen, für alles dreimal so lange zu brauchen, und wenn alles zehnmal so umständlich ist, dann wird man leicht frustriert. Ich bin zwar von Haus aus jemand, der schnell an die Decke geht, aber es ist schrecklich, dauernd mit ansehen zu müssen, wie andere alles können. Als Kind habe ich extrem darunter gelitten, wie leicht den anderen die Dinge von der Hand gingen, während ich mich abmühte und doch nichts zustande brachte. Meine eigentlichen Stärken wurden zwar bemerkt, doch konnte ich sie kaum ausüben. Außerdem traute man mir gar nichts zu, ich wurde stark über behütet. Man hätte mir einige Aufgaben geben müssen, auf die ich dann stolz gewesen wäre, wenn ich sie gut ausgeführt hätte. Auch wurde ich mit extrem wenig Verantwortung betraut. Es hätte mein Selbstbewusstsein wahrscheinlich gestärkt, wenn ich auch einmal auf etwas hätte aufpassen müssen. Aber ich war die jüngste, so wurde nur auf mich aufgepasst und mir geholfen, während ich immer nur Empfänger von Hilfe war, selbst aber mit meinen Hilfsangeboten immer abgewiesen wurde. „Lass mal, mischt du dich da nicht auch noch ein.“ „Das kannst du nicht.“ Somit ist mein Frust wirklich berechtigt. Ich habe im Verhältnis zu dem, was ich an Frustration eingesteckt habe, zu wenige Erfolgserlebnisse gehabt. Daher ist es leicht, mir eine geringe Frustrationstoleranzschwelle zu diagnostizieren. Aber diesem Missverständnis sitzen die meisten auf. Es hieß auch, ich hätte sehr wenig hilfreiche Bewältigungsstrategien entwickelt, wie zum Beispiel Misstrauen oder Aggressivität. Ich finde es normal, dass man misstrauisch wird, wenn man viele schwierige Erfahrungen gemacht hat. Auch finde ich es legitim, seine Grenzen mit einer gewissen Aggressivität zu verteidigen, wenn es anders nicht möglich ist. Aggressiv bedeutet ja nicht immer Gewalt. Ich hatte in dem Test angekreuzt, dass ich manchmal eine Wut auf andere habe, und mir vorstelle, dem anderen eine zu scheuern. Zwischen dem Gedanken oder es zu tun, ist ja noch ein unterschied. Ich finde, es hat einen kathartischen Effekt, wenn man sich das Gesicht des anderen vorstellt und mal richtig reindrischt. Das bedeutet aber nicht, dass man dem anderen Böses wünscht, im Gegenteil, es schützt vielleicht sogar davor, tatsächlich Gewalt anzuwenden. Es ist besser, man gesteht sich seine Wut zu, anstatt sie innerlich zu nähren und aufzuheben, sodass sie irgendwann immer größer wird und ausbricht. Er hatte mich noch gelobt, dass ich gut Grenzen setzen und mich wehren könnte. Es las sich aber dann so, als sei ich regelrecht aggressiv. Ich hoffe, dass ich einen guten Traumatherapeuten finde, der diese Abwehrstrategien erst einmal würdigt, und versteht, dass sie in der damaligen Situation notwendig waren um zu überleben. Mit überleben meine ich jetzt nicht wortwörtliches Überleben, denn ich war ja nie in Lebensgefahr. Aber ein soziales Überleben ist auch sehr wichtig. Wenn jemand solche Strategien als klug und als Anpassungsmaßnahme würdigt, kann er einen auch annehmen, wie man ist. Damals war es notwendig, solche Strategien zu entwickeln. Das heißt ja nicht, das es ein Leben lang so sein muss. Wenn man dann lernt, dass man in einer neuen Umgebung solche Abwehrmaßnahmen nicht braucht, kann man sie auch irgendwann abbauen. Das ist zumindest meine schlicht gestrickte Theorie. Solche Strategien zu loben bedeutet ja nicht, dass man jemanden dazu auffordert, sein Leben lang sich so zu verhalten. Er hat auch geschrieben, dass ich all dies nur so gut überstanden hätte, weil ich dies meine Intelligenz zu verdanken hätte. Nun, Intelligenz hat man mir schon immer zugeschrieben, es hieß immer: „Sie ist gut in der Schule, aber sonst…“ Ich hätte lieber gehabt, dass ich genauso aufgrund liebenswerter Eigenschaften all dies überstanden hätte. Oder, dass man hinter der rauen Fassade auch sieht, dass es liebenswerte Eigenschaften gibt. Ich hoffe, dass die dann auch entdeckt werden. Eine Passage möchte ich doch zitieren: "Zum dritten erlitt Frau X wie viele körperlich und geistig behinderte Menschen erhebliche Traumatisierungen. Ein Beispiel mag dies erläutern: Im Jahr 2000 fragte Frau X 2 Unbekannte in Prag nach dem Weg. Diese boten sich an, ihr den Weg zu zeigen, führten sie in eine abgelegene Gasse, warfen sie zu Boden, schlugen sie und stahlen ihre Tasche. Die blinde Frau versuchte daraufhin bei einer Polizeistelle das Ereignis zu melden. Da sie jedoch als Teilnehmerin einer Antiglobalisierungsveranstaltung in Prag war, weigerte sich die Polizei bei der behinderten Ausländerin, die zudem noch eine regierungskritische Meinung vertrag, überhaupt eine Anzeige aufzunehmen. Erst mit Hilfe der Botschaft konnte Frau X die Tat überhaupt dokumentieren lassen. Selbstredend ist nie eine Ermittlung geführt oder gar eine Täterschaft festgestellt und abgeurteilt worden. Diese kleine Episode zeigt, was die Wissenschaft nahelegt: Behinderte Menschen haben ein um 40 % erhöhtes Traumatisierungsrisiko gegenüber der Allgemeinbevölkerung." Dies ist ein erschütterndes Ergebnis. Es zeigt, wie weit wir doch noch von der Inklusion entfernt sind. Vor einigen Jahren gab es eine Studie, in der erforscht wurde, inwieweit behinderte Frauen Gewalt ausgesetzt sind. An dieser Studie habe ich damals teilgenommen. Auch hier hieß es, dass insbesondere behinderte Frauen in höherem Maße Gewalt ausgesetzt sind. Als Frau hat man es noch einmal schwerer. Ich habe damals auch festgestellt, dass im Internat die Mädchen noch mehr unter den Quälereien gelitten haben. Ein anderes Mädchen, was auch stark sehbehindert war, wurde zwar nicht so sehr gemobbt wie ich, sie hatte auch eine Freundin sowohl in der Schule als auch eine im Internat, mit der ich auch häufiger zusammen war, aber sie war auch nicht sonderlich beliebt. Sie war vielleicht nicht ganz so seltsam wie ich, außer ihrer Sehbehinderung hatte sie keine anderen Behinderungen. Als sie erblindete, schob man sie einfach nach Marburg ab. Mir wurde dauernd vorgehalten, dass die beiden Jungs, die mit mir gekommen waren, wesentlich besser zurechtkamen als ich. Dabei waren die beiden schon in der Grundschule miteinander befreundet gewesen und waren miteinander dort hingekommen. Bei Jungs scheint dies alles etwas unkomplizierter zu sein. Auch nach der Schule hörte ich häufig, was aus den einzelnen Leuten geworden ist. Aus allen Jungs ist etwas Ordentliches geworden. Manche wurden Lehrer, andere studierten Gesang, andere wiederum gingen ins Kloster oder wurden Pfarrer. Aber bei den Mädchen war dies viel problematischer, bei der Arbeitssuche haben wir Mädchen noch wesentlich mehr Hürden, obwohl dies nicht klar zu definieren oder zu greifen ist. Ich glaube nicht, dass dies lediglich eine Ausrede ist. Die von mir in einem anderen Blogeintrag erwähnte blinde Psychologin legte mir einmal nahe, darüber nachzudenken, ob es nicht mit mir zu tun hätte, dass ich im Gegensatz zu anderen blinden und sehbehinderten keine Arbeit gefunden habe. In dem Arztbrief des Autismusdiagnostikers heißt es, ich hätte aus „sozialen Gründen“ keine Arbeit gefunden. Es ist aber bekannt, dass Schwerbehinderte zu 70 % meines Wissens arbeitslos sind. In dem Gutachten heißt es demnach: „Obwohl sie in diesen Gebieten hervorragende Leistungen erbringt, war es ihr aufgrund anhaltender Hänseleien und Mobbingsituationen nicht möglich, in ihrem Beruf als Übersetzerin Fuß zu fassen, so dass auch im Erwachsenenleben anhaltende Misserfolge und Frustrationen zu verarbeiten waren." Bei der Suche nach einer Festanstellung wurde mir häufig erklärt, dass man keine Behinderte nehmen wollte. Dies sagte man mir natürlich nur mündlich, in den Absagen stand das natürlich nicht. Ich werde häufig gefragt, was mich auch der Diagnostiker gefragt hatte, warum ich da nicht freiberuflich gearbeitet hätte. Alle stellen sich dies so vor, als ob man einfach nur einen Computer anschließt und sofort mit dem Übersetzen loslegen kann. Der freie Markt als Übersetzer ist ein Haifischbecken. Der Beruf des Übersetzers ist nicht geschützt, jeder kann sich Übersetzer nennen. Diplom Übersetzer hingegen kann sich nur derjenige nennen, der studiert hat. Wenn jemand aber eine billige Übersetzung möchte, verzichtet er auf die Vorsilbe "Diplom-" . Die Zeilenpreise sind heut so niedrig, dass auch Nichtbehinderte Übersetzer um ihr Überleben kämpfen. Mir hat ein blinder Übersetzer gesagt, er sei einer der wenigen, der es geschafft hätte. Die meisten meiner Übersetzerkollegen arbeiten heute im Blindenverband und führen eine ganz andere Tätigkeit aus. Dies ist mir natürlich aufgrund meiner sozialen Grenzen nicht möglich. Es ergibt sich außerdem die Schwierigkeit, dass man, wenn man wirklich redlich ist, nur aus der Fremdsprache in die Muttersprache übersetzt. Wenn man in eine Fremdsprache übersetzt, braucht man jemanden, der Korrektur liest, den man dann ebenfalls wieder bezahlen muss. So bleibt von dem Honorar nicht allzu viel übrig. Ich kenne eine blinde Frau, die als Übersetzerin tätig ist. Ich bat sie, mir ab und zu einmal eine medizinische Fachübersetzung zukommen zu lassen. Theoretisch kann man pro Zeile für eine medizinische Fachübersetzung einen Euro oder mehr verlangen. Sie bot mir hingegen nicht einmal 0,30 € an. Ich würde sogar für dieses Geld eine Übersetzung machen, einfach nur, damit ich einmal wieder etwas übersetzen kann und sehe, dass ich es noch kann, und damit ich ein Erfolgserlebnis habe. Außerdem kommunizieren die meisten Mediziner heutzutage in – wenn auch mehr oder weniger schlechtem – Englisch, so das nicht mehr viel zu übersetzen bleibt. Dass ich also rein aus sozialen Gründen oder wegen meiner Erfahrungen mit dem Mobbing im Berufsleben nicht Fuß fassen konnte, ist nur die halbe Wahrheit. Selbstverständlich bin ich wahrscheinlich in meiner psychischen Beweglichkeit durch all diese Erfahrungen eingeschränkt, und auch in meiner Tätigkeit als Ausbilderin hatte ich große soziale Schwierigkeiten, meine Autorität zu etablieren und meine Kompetenz gut zu verkaufen. Aber man sollte auch die politische Seite anerkennen, denn es ist hier noch ziemlich viel zu tun, damit behinderte Menschen am Berufsleben teilhaben können. Es existieren bei den Arbeitgebern noch immer große Vorurteile hinsichtlich der Leistungsfähigkeit Schwerbehinderter. Außerdem geht die Mär, dass man einem Behinderten nicht mehr kündigen könne, ihn also nicht mehr los wird, egal, was passiert. Es würde hier zu weit führen, diesen Irrglauben auszuräumen. Es hilft niemandem, wenn man das Problem individualisiert. Es gibt immer eine innere und eine äußere Wahrheit. Es gibt immer eine persönliche und eine gesellschaftliche Seite. Ich hatte auch sehr viel Pech, wenn ich dann doch einmal fast einen Auftrag erhalten hätte. Es ist sehr schwierig, Außenstehenden die beruflichen Schwierigkeiten eines Übersetzers zu erklären, zumal man auch vom Berufsverband der Übersetzer wenig Hilfe bekommt. Und es ist umso schwerer, anderen klarzumachen, dass dies mit einer Behinderung noch ungleich schwieriger ist, da man weniger Zugang zum Markt hat aufgrund der Einschränkungen und wegen der Mängel in der Barrierefreiheit , und da man deswegen auch oft nicht schnell genug ist, um sich einen Auftrag unter den Nagel zu reißen. Auch fehlt häufig das berühmte Vitamin B, für das man erhöhte soziale Kompetenzen braucht, die mir ja auch fehlten, um ein Netzwerk zu knüpfen. Und als Behinderte, zumal als Frau ist man häufig nicht in der Lage, die berühmten Seilschaften zu bilden, die häufig schon sehr früh in der schulischen Laufbahn entstehen und schon bei der familiären Stellung in der Gesellschaft beginnen. Hätte ich das von Anfang an gewusst, hätte ich wahrscheinlich diesen Beruf gar nicht gewählt, aber meine Fähigkeiten und Interessen lagen eben auf diesem Gebiet, und Ärztin konnte ich ja nicht werden, was ich heute noch sehr bedauere. Ich habe mich damals für den spannenden und steinigen Weg entschieden, obwohl meine Eltern mich lieber als Beamtin gesehen hätten. Ich hatte aber aufgrund eigener Erfahrungen ein zu negatives Bild von Beamten, so dass ich mir dieses Leben als unerträglich langweilig und duckmäuserisch vorstellte. Dass der spannende und steinige Weg damit enden würde, dass ich komplett im Morast stecken bleibe, hätte ich auch nicht vermutet. Ich war bereit, ein gewisses Risiko auf mich zu nehmen, was ich auch ziemlich spannend fand. Nur bedeutet Risiko, es kann genauso gut auch klappen. Somit war es kein Risiko, Übersetzerin zu werden, sondern von vorneherein für mich unmöglich. Daher gehört es dazu, dass ich diese Niederlage beginne zu verarbeiten. Bezeichnend ist auch, dass ich Therapeuten und anderen bisher schwer klarmachen konnte, dass ich zu Recht darunter leide, frühberentet zu sein. Auch hier hatte ich den Eindruck, dass das eigentliche Motiv, warum ich die Frühberentung als Kränkung empfinde, nicht wirklich rübergekommen ist . Wenn ein nicht behinderter Mensch schon mit 50 auf dem Abstellgleis steht, hat jeder Verständnis, dass er darüber deprimiert ist. Bei mir hingegen, die ich schon mit 38 in Rente gehen musste und vorher auch nur eine kurze Zeit gearbeitet hatte, wundert sich jeder und sieht es als Teil meiner psychischen Problematik an, dass ich darüber trauere, meinen Lebensentwurf nicht verwirklichen zu können. Irgendwie hat man von Behinderten noch eher das Bild, dass eine Laufbahn in einem besseren Beruf als ehrgeizig oder zu hoch gegriffen angesehen wird. Daher wird folglich mein Wunsch, Trauerarbeit über diesen Verlust leisten zu dürfen, als schwer verständlich angesehen. Viele denken auch ganz direkt, was hat die auch mit ihrer Behinderung unbedingt so hoch hinaus gewollt, das war doch absehbar, dass die nichts findet, dann brauch sie sich jetzt auch nicht darüber zu grämen. Auch wird häufig geglaubt, wenn man studiert hat, sei man deswegen traurig, nicht gearbeitet haben zu können, weil man zu hohe Ansprüche an einen Beruf gehabt hat, und daher den Misserfolg schwerer nimmt. Dabei wird sicher ein Schreinermeister oder Konditor, der diesen Beruf mit Liebe erwählt hat, genauso deprimiert darüber sein, wenn er in dieser Branche nicht Fuß fassen konnte. In meinem Falle ist es wesentlich schlimmer, dass ich meinen Lebensentwurf nicht durchziehen konnte, da mir die Alternative, Hausfrau zu werden und Kinder zu bekommen und zu heiraten ja nicht offen stand, bzw. eben nie zur Debatte gestanden hat. Somit habe ich mich komplett auf ein Leben als Akademikerin und geistige Arbeiterin kapriziert. Als dies dann auch noch Weg fiel, hatte ich ja gar kein Standbein und keine Perspektive mehr für eine schöne Zukunft. Mir sagte einmal ein Sozialpädagoge, mit meinem Radio Projekt hätte ich doch genug, ich könne doch froh sein, andere Behinderte würden in der Werkstatt landen. Dies zeigt deutlich, wie wenig man einem Behinderten zugesteht. Er selbst hat nur Fachhochschule, um es einmal arrogant zu formulieren, wünscht sich aber selbstverständlich für sich selbst ein gelungenes Berufsleben. Mir hingegen gesteht er diese für sich selbst in Anspruch genommene Selbstverständlichkeiten nicht zu. Daher wird es noch ein weiter Weg, anderen klarzumachen, dass für mich die Tatsache, meinen Lebensweg nicht so fortsetzen zu können, wie ich es für mich geplant hatte, genau so eine soziale Kränkung ist wie für jeden anderen, der nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben und nichts zur Gemeinschaft beitragen kann. Immerhin gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, dass Arbeitslose depressiver werden und in ihren Bewegungen langsamer werden, da sie darunter leiden, ausgeschlossen zu sein. Außerdem ist hier auch das Risiko, krank zu werden, um ein Vielfaches erhöht. Ich habe wenig Möglichkeiten, meine Kompetenzen zu zeigen und einzubringen. Daher ist die Rolle als kompetente Frau, die geistig etwas leisten kann, die sich intellektuell betätigen kann, für mich tabu. Dieser Persönlichkeitsanteil von mir spielte einmal eine große und tragende Rolle. Nun ist dieser Anteil aber abgeschnitten, die Person in mir, die klug war und als solcher wahrgenommen wurde, ist gestorben. Ich bin nur noch in der Rolle derjenigen, die Hilfe braucht, die man als nicht tüchtig und hilflos wahrnimmt. Ich merke immer wieder, dass man sich von so jemandem wie mir nichts erklären oder sagen lässt, und alle Tatsachen, die ich fachlich bringe, mit einem „weiß ich nicht, kann sein“ weggewischt werden. Somit existiere ich nicht als jemand, die auch etwas weiß und wie jeder andere zum Wissensaustausch zwischen den Menschen beitragen kann. Und nicht zuletzt sollte man auch bedenken, dass ich all dieses Mobbing in der Schule nur ausgehalten habe, weil ich die Hoffnung hatte, später nach meinem Abitur zu studieren und einen tollen Beruf zu ergreifen. Mein Wahlspruch im Internat war immer: „Wer etwas werden will, muss leiden“ , nur so konnte ich all diese Quälereien überhaupt durchstehen. Hätte ich gewusst, dass ich hinterher sowieso beruflich überhaupt nichts reißen kann, hätte ich mir diesen ganzen Quatsch auch ersparen können. Dann hätte ich in der Sehbehindertenschule meinen Hauptschulabschluss gemacht, wäre Telefonistin geworden oder Schreibkraft und hätte all diese traumatischen Erfahrungen nie machen müssen. Insofern hat mein berufliches Scheitern sehr wohl sehr viel mit meinem Trauma durch das Mobbing zu tun. Einige der Formulierungen sind mir noch unklar, dazu reichen meine psychologischen Kenntnisse nicht aus. Insgesamt aber bin ich zufrieden mit dem Gutachten. Es hat mir nun eine komplexe Traumafolgestörung bescheinigt. Ich denke, hiermit lässt sich etwas anfangen. Ich habe es einigen engen Freunden gezeigt, und einige Leute meinten auch, dass ist die aktuelle Situation ziemlich gut trifft. Nun steht mir noch die schwierige Aufgabe bevor, einen Traumatherapeuten zu finden. Mir wurde ja jemand genannt, und nun muss ich darum kämpfen, dass sie mir Gehör schenkt und mir hilft, jemanden zu finden. Dies wird noch eine sehr schwierige Aufgabe werden. Nach wie vor wurmt es mich, dass ich das Gutachten selbst zahlen musste, und dass ich nicht vom Gesundheitswesen mit meinen Problemen aufgefangen wurde. Wurde ich damals schon alleine gelassen, als mir all dies passierte, hat man mich auch jetzt wieder bei der jahrelangen Suche und der Finanzierung einer fundierten Traumadiagnostik im Stich gelassen. Ich hoffe, dass dies nicht wieder bei der Suche nach einem Traumatherapeuten ebenso passiert. Ich komme mir vor, als sei ich außerhalb des sozialen und gesellschaftlichen Netzwerkes. Vielleicht ist dies einfach mein Schicksal, meine persönliche Ananke, mein Kismet. Es wäre die erste korrigierende Erfahrung, wenn ich hier positiv überrascht würde und eine geeignete Person finden würde. Das wäre der erste Schritt auf die Sonnenseite. Der erste Schritt in Richtung positive Erfahrung war ja schon, dass das Gutachten so ausgefallen ist.

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