Montag, 16. Juni 2014

Sind wir wirklich frei?

In einer Ausgabe der Verbandszeitschrift des  Deutschen Blinden- und Sehbehindertenbundes gab es eine Debatte über den Fall von einem taubblinden Zwillingspaar, welches sich gemeinsam umgebracht hat, offenbar mit  Hilfevon außen.  Hierzu habe ich einen Leserbrief geschrieben, der dort in wesentlich gekürzter Form erschienen ist. Nun dachte ich, ich könnte ihn auch einmal hier in voller Länge einstellen. 

In der  Zeitschrift "Die Gegenwart"  hat sich eine Psychologin zu dem Fall der taubblinden Zwillinge geäußert, die aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen hatten.  Sie hat auf das Entsetzen und die Empörung der Behinderten reagiert, die den Akt der Sterbehilfe als "Vergiften statt Helfen" bezeichnet haben und es lieber gesehen hätten, wenn diesen Menschen die Möglichkeit der Kommunikation trotz Taubblindheit mittels z.B. des Lormens nahegebracht worden wäre.  Es stimmt zwar, wie sie sagt, daß man nicht den Stab über Menschen brechen sollte, die diesen Ausweg  gewählt haben, doch denke ich, daß niemand ein moralisches Urteil über diese beiden zusätzlich auch noch schwerkranken Menschen gefällt hat sondern eher über diejenigen, die diesem  Todeswunsch vielleicht zu schnell nachgekommen sind.

Es wird  hier angedeutet, daß die Behindertenbewegung -- vielleicht traumatisiert durch die Vorgänge im dritten Reich -- sehr emotionalisiert über die Frage der aktiven Sterbehilfe urteilt.  Nun, was ist eigentlich auch so schlimm daran, aus einem Trauma heraus bestimmte Schlußfolgerungen zu ziehen, ob verarbeitet oder nicht, ein Trauma bedingt immer eine Einstellungsänderung, und diese ist doch hier nicht ganz so verkehrt.

Natürlich ist es ein Unterschied, ob Menschen gegen ihren Willen getötet werden, oder ob sie aus freien Stücken diesen Weg wählen.  Hier aber genau ist der Knackpunkt. Die Frage ist, ob wir wirklich frei sind.   Darüber streiten sich Psychologen und Philosophen noch heute.  Wir unterliegen sehr vielen Notwendigkeiten und Zwängen in unserem Leben, alleine schon durch unsere Biologie, wir müssen essen, schlafen, haben viele andere Bedürfnisse, die wir nur schwer unterdrücken können.  Uns ist selbst gar nicht bewußt, wie sehr unser Gehirn bestimmten Zwängen unterliegt, da diese völlig ohne unser Wissen ablaufen.

Ebenso unbewußt sind uns oft gesellschaftliche Zwänge, z.B., daß wir nicht auffallen dürfen, anderen nicht zur Last fallen dürfen, möglichst viel alleine tun können sollten, und um sich anderen zuzumuten, dazu gehört eben, wie das Wort schon sagt, viel Mut.  Im Zuge der sich umkehrenden Alterspyramide habe ich die Sorge, daß das sogenannte "sozialverträgliche Frühableben" immer mehr Schule macht, wenn dies auch nicht offen so kommuniziert wird.  Aber wie oft hört man von alten Menschen, wenn auch eher etwas emotional erpresserisch den Satz: "Es wäre wohl das Beste, ich wäre nicht mehr da." Wie schnell kann ein solches Klima wenn auch unbewußt die Entscheidung beeinflussen, ob man auf dieser Erde noch verweilen möchte.

Ich denke, daß nicht nur in Fällen, bei denen die Entscheidungsfreiheit offensichtlich eingeschränkt ist, wie z.B. bei psychischen Erkrankungen, die Gefahr besteht, daß Entschlüsse nicht wirklich selbständig   getroffen werden können und eher Kurz-Schlüsse sind, sondern, daß jeder Mensch gewissen Manipulationen unterworfen ist.  Zum einen ist die Grenze zwischen psychisch gesund und krank sehr fließend,  und es kann auch bei vorher psychisch Gesunden  in Extremsituationen, wie sie eine Behinderung oder schwere Krankheit nunmal darstellen,  zum sogenannten Tunnelblick kommen, in dem sie nur noch einen Ausweg sehen.  Auch hier ist ein besonderer Schutz notwendig und vorallem die Aufklärung, was noch alles möglich ist,  wo es (auch finanzielle) Hilfen zu holen gibt, daß Betroffene nicht alleine gelassen werden, und daß andere Möglichkeiten und Auswege existieren können.  Ich behaupte einmal ganz axiomatisch, daß kein Mensch per se Todessehnsucht hat, sondern daß man einfach nur so nicht mehr leben will.

Ich selbst als Blinde und Dialysepatientin habe schon oft mit dem Gedanken gespielt, daß ich diese Situation nicht mehr länger erdulden will.  Darum bin ich die Allerletzte, die moralisch den Stab über jemanden brechen würde, der diese Entscheidung trifft.  Nur stört mich der Begriff der "Freiheit".  Kann mir wirklich jemand ganz sicher beweisen, daß Menschen, die diesen Weg gewählt haben, tatsächlich aus freien Stücken gehandelt haben?  Mein Motto ist immer: Love it, change it or leave it.  Nun ist die Frage: Kann ich es lieben?   Nein!  Kann ich es ändern?  Nein!  Bin ich also frei, habe ich also zwei Möglichkeiten, die ja per definitionem das Wesen der Freiheit sind?  Nein!  Die Entscheidung, sich in so einer Situation umzubringen ist genauso frei wie die eines Menschen, der im zwanzigsten Stock eines brennenden Hochhauses steht und die Wahl hat, an Rauchvergiftung zu sterben oder ohne Sprungtuch auf dem Pflaster aufzukommen.  Bildlich gesprochen müssen wir also ein Sprungtuch aufspannen, um eine echte Wahlfreiheit zu gewährleisten.  Gibt es Hilfen, kann man die Lage ändern, kann man die Schmerzen palliativ behandeln, gibt es finanzielle Möglichkeiten, um den Spielraum zu erweitern?  Wenn dies alles gegeben ist, und dann ein Mensch immer noch sagt, daß er nicht mehr leben will, dann muß man seinen Willen wohl respektieren.  Freitod ist für mich der Begriff für einen Menschen, der ein langes und zufriedenes, erfülltes Leben hatte und dann einfach sagt: "Nun ist es genug!"  Und selbst da stellt sich mir die Frage, ob derjenige nicht große Angst vor dem drohenden Autonomieverlust hat, den das Alter mit  sich bringt, aber vielleicht hätte dieser hypothetische Mensch  dann genug Geld, um sich die Hilfe einzukaufen, die er benötigt und wählt dennoch diesen Weg nach reiflicher Überlegung.

Ich bekomme Bauchschmerzen bei dem Gedanken, daß jemand ans Bett eines Schwerkranken tritt und ihm das Angebot macht: "Übrigens, Du kannst auch die Euthanasie wählen, wenn Du willst."  Irgendwie muß er ja diese Information dann bekommen, aber könnte darin nicht schon der Gedanke mitschwingen, daß man dieses Angebot  dann auch bitte schön annehmen sollte?!  Wer kann ausschließen, daß Angehörige, die vielleicht sogar mehr unter der Situation leiden, jemanden hilflos daliegen zu sehen, nicht doch irgendwie durchblicken lassen, daß sie erleichtert wären, wenn alles nun endlich vorbei wäre, und der Betroffene sich aus Loyalität zu seinen Angehörigen verpflichtet sieht, diese zu entlasten?

Meiner Meinung nach ist es auch nicht die Aufgabe von Ärzten, ein Leben zu beenden.  Ärzte sind dazu da, das Leben zu erhalten, zu verbessern oder, wenn keine Verbesserungsmöglichkeit besteht, den Patienten palliativ zu begleiten.  Ärzte sind dafür da, richtig zu dosieren, das haben sie gelernt, um dem Patienten zu  helfen.  Ich  finde es für mich nur dann legitim, das Leben aktiv zu beenden, wenn der Tod ohnehin irreversibel vor der Türe steht, und ein qualvolles Sterben verhindert werden soll, oder wenn bei nicht mehr erträglichen Schmerzen so starke Schmerzmittel gegeben werden, daß auch der Tod mit in Kauf genommen werden kann, wie eben bei der terminalen Sedierung.    (Aktueller Hinweis: In einem Buch über  Palliativmedizin habe ich gelesen, dass es gar nicht möglich sei, jemandem so viel Morphium zu geben, dass er dran stirbt, bzw. es gab Beispiele von 10facher Dosierung, wo nichts passiert sei.)

Die Erfüllung eines Sterbewunsches gehört für mich in die Hand eines gesetzlichen Betreuers oder eines Juristen, wobei zuvor einwandfrei abgeklärt werden muß, auch mit Hilfe von Psychologen oder geistlichen Seelsorgern, ob es wirklich der freie Wille des Betroffenen ist, und dieser  zuvor  auch wirklich umfänglich über alle tatsächlich in die Praxis umsetzbaren Alternativen aufgeklärt wurde.  Und genau bei der Beantwortung dieser Frage, inwieweit eine zweifelsfreie Abklärung diesbezüglich möglich ist, und wie frei jemand wirklich ist, so eine unumkehrbare Entscheidung zu fällen, da habe ich große  Zweifel.   

Auch der Einwand, daß es besser ist, etwas  zu legalisieren, was ohnehin getan wird, wobei bei diesen Handlungen dann obendrein noch andere -- wie z.B. Lokführer, Angehörige oder Angestellte, die denjenigen dann auffinden, mit reingezogen werden, ist damit zu entkräften, daß  nicht einfach folgenschwerste Handlungen wie  Sterbehilfe oder assistierter Suizid durch ihre Legalisierung weniger problematisch werden.  Auch die präimplantive Diagnostik, wo bereits vorgeburtlich selektiert wird, ist in der BRD nicht erlaubt, und diese sowie andere problematische Verfahren werden dann immer mit dem Argument gerechtfertigt: "wenn wir's nicht tun, dann machen's andere".  Schließlich werden auch bei der legalen aktiven Sterbehilfe Menschen mit hineingezogen, z.B. diejenigen, die sie dann ausführen müssen.  Auch beim assistierten Suizid muß einer da sein, der das Gift besorgt.  Das einzige, was daran noch beruhigend wirkt,  ist die Tatsache, daß man handlungseingeschränkten Betroffenen eine für sie durchführbare Möglichkeit zur Verfügung stellt, sich selbst umzubringen und es selbst in der Hand zu haben.  Nur wäre es danach unterlassene Hilfeleistung, denjenigen liegen zu lassen, und es müßte  ohnehin wieder gehandelt werden. Weiterhin bleibt immer noch die Frage, ob derjenige dann noch den Mut hat, seine vorher geäußerte Entscheidung dann doch wieder rückgängig zu machen und er die Kraft aufbringt, sich dann im letzten Moment doch noch umzuentscheiden, oder  ob die Versuchung nicht doch zu groß ist,  in der Situation  möglicherweise dem Druck nachzugeben, weil doch nun soviel Aufwand betrieben wurde, um ihm diesen Ausweg zu ermöglichen, und es  für ihn somit "kein Zurück" mehr gibt.

 Ich möchte keineswegs moralisieren, und ich finde es anmaßend, einem  Leidenden zu sagen: "Du mußt Dein Kreuz tragen."     Das Hintertürchen offen zu haben, jederzeit aus dem Leben scheiden zu können, kann auch beruhigend sein, seinen Weg weiter zu gehen, und mit dem Wissen, sich  dann immer noch umbringen zu können, wenn's wirklich nicht mehr geht, kann man vielleicht sogar noch mutiger sein und noch größere Strapazen auf sich nehmen, als man es ohne dieses Hintertürchen tun würde.   Daher sehe ich Selbstmord auch nicht unter moralischem Gesichtspunkt.  Jemand, der eine Krankheitsdiagnose mit fortschreitender  Prognose erhält, wird eventuell länger durchhalten, wenn er sich darauf verlassen kann, daß jemand diesen "Liebesdienst" für ihn erledigt, den er dann später nicht mehr selbst tun kann, anstatt sich schon gleich zu Anfang der Erkrankung umzubringen.  Dennoch bleibt die Frage, ob er, sobald er dann tatsächlich in der Situation ist, noch genauso denkt, da er diese  zuvor ja lediglich gedanklich vorweggenommen hatte.  Was ist, wenn er dann in der konkreten Lage ganz anders entscheiden würde, es aber dann nicht mehr äußern kann? 

Es wäre natürlich ungerecht, jemandem, der sich selbst kein Gift mehr besorgen kann zu sagen: "Du  hast gefälligst leben wollen zu müssen."   Dennoch ist es so, daß wir bei jedem anderen Menschen, der  -- aus welchen Gründen auch immer -- Selbstmordabsichten äußert, doch genauso alles tun, um dies zu verhindern, somit müssen wir es hier ebenso tun.    Der Wunsch,  nicht mehr leben zu wollen, ist ein Hilferuf nach Verbesserung.  Solange wir auf Todeswünsche  und Selbstmordäußerungen nur entweder so reagieren, daß wir denjenigen in die Geschlossene stecken oder im anderen Extremfall seinem Wunsch barrierefrei nachkommen, anstatt ein barrierefreies Leben zu gestalten, verpassen wir die Chancen,  die Nöte desjenigen zu hören und unsere Gesellschaft  dementsprechend versuchen zu verändern.  Da der Tod zum Leben gehört, gehört zur Lebenshilfe irgendwie auch die Hilfe zum und beim Sterben dazu.  Aber solange die Hilfe zu einem selbstbestimmten und freien Leben noch so extrem ausbaubedürftig ist, kann  die Option, dann lieber zu sterben, keine freie Entscheidung sein.  Ich befürchte, wenn wir den ermöglichten Selbstmord bzw. die aktive Sterbehilfe zulassen, wird weniger  dafür getan, die Lebensbedingungen von Behinderten und Schwerstkranken zu verbessern, da es ja eine bequemere Lösung gibt.  Mir macht, um es kurz zu sagen, die Vorstellung, daß einem Kranken die Möglichkeit der Sterbehilfe angeboten wird, große Angst.  Es ist keine Frage des moralischen Zeigefingers sondern die große Sorge in einer sozial eher kälter werdenden Umwelt.

Wer Lust hat, sich mit diesen Gedanken näher zu befassen, der lese z.B. das Buch von Klaus Dörner: "Tödliches Mitleid"

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