Sonntag, 30. März 2008

Es geht allen so!

Ich sehe schlecht, ich bin nachtblind. Wenn ich mit anderen unterwegs bin und sage, daß ich im Dunkeln nichts sehen kann, sagen sie immer: Das geht uns allen so. Zwei Minuten später sagen sie: DA VORNE ist ja die Kirche, da müssen wir hin!
Als mein Sehen nachließ, wurde ich mehr und mehr blendempfindlich. Da sagten mir die Leute, das geht uns allen so. Ich sprach mit einer Späterblindeten, die meinte, sie habe früher keine solche starke Blendungsempfindlichkeit gehabt, sie habe ja schließlich den unmittelbaren Vergleich.
Ich rede oft mit Leuten, die mir sagen: Wenn ich meine Brille absetze, bin ich fast blind. Dabei haben sie wenigstens eine, die ihnen das volle Sehvermögen gibt. Ein Taxifahrer sagte mir einmal, er wisse, wie ich ich fühle, denn er bekäme jetzt für die Dunkelheit auch eine Lesebrille. Da war ich drauf und dran zu sagen: Wenn Sie SO schlecht sehen, dann lassen Sie doch besser mich fahren.
Eine Frau sagte einmal: das ist schwierig für Sie, da herumzulaufen. Als ich ihr ehrlicherweise sagte, ja, sagte sie mir daraufhin: Sehen Sie, ich habe es auch nicht leicht, ich bin schon sehr früh Mutter geworden. Da wir gerade an einem Treppenabsatz standen, traute ich mich n icht zu sagen: "Die Pille zur Verhütung von Kindern ist bereits erfunden, die Pille zur Verhütungvon Blindheit leider noch nicht." Wer so dämlich ist und eine Blindheit mit der Erwartung eines Kindes zu vergleichen, verdient keinen anderen Satz. Aber ich hatte Angst, sie würde mich danach vielleicht die Treppe runterstoßen wenn ich das sage.
Ich bin an der Dialyse, aber immer, wenn ich Leute treffe, sind die immer noch viel kränker. Wenn ich andere höre, bin ich der gesündeste Mensch auf der Welt. Die, die es noch schwerer haben, betonen dies ganz ausdrücklich ("Du hast ja nur was mit Nieren, ICH hatte ja einen Schlaganfall"). Und diejenigen, die viel weniger haben, verleugnen diesen Unterschied total: "Es geht uns allen so, jeder hat sein Päckchen zu tragen, ich hab auch eine Brille...."
Außerdem bin ich immer jedem im Vorteil. Die Früherblindeten sagen, ich sei im Vorteil, weil ich ja noch lange gut gesehen habe. Die Späterblindeten sagen, ich sei im Vorteil, weil ich ja schon relativ früh Zeit hatte, mich andiese Situation zu gewöhnen.
Die Blinden sagen, ich sei im Vorteil, weil ich noch einen Sehrest habe. Die Sehbehinderten sagen, ich sei im Vorteil, weil ich ja schon die Vergünstigungen und die Entlastungen der Blinden bekomme.
Immer, wenn ich aucn nur ein einziges Mal sage, daß mir etwas schwerfällt, daß ich wo etwas nicht sehe, daß ich meine Brille brauche, daß es mir schlecht geht, dann kommt automatisch: Sei froh, daß Du noch was siehst, Du kannst dankbar sein, andere haben es noch viel schwerer. Du kannst froh sein, daß Du noch lebst, andere sterben an der Dialyse. Ich will ja nicht sagen, daß ich es am allerschlechtesten habe. Aber auch ich darf ja mal ganz einfach sagen, daß es schwer ist, ohne gleich wieder mit dem moralischen Zeigefinger gedroht zu bekommen, ich könne ja noch froh sein, weil ich "nur" das habe. Dabei ist das auch schon ganz schön viel und auch schon genug. Ich finde es traurig, daß ich keine Möglickeit habe, auch einmal sagen zu dürfen, es ist nicht einfach. So etwas sagt man auch einfach mal im Alltag, das kommt einfach mal vor. Aber jedesmal werde ich dann so zurechtgewiesen (von Leuten, die noch kränker sind als ich und mein Schicksal beneiden, und auch von ganz Gesunden, die eigentlich gar kein Recht dazu haben). Daraufhin sage ich schon immer zu den Gesunden: Wenn ich schon dankbar sein muß, daß ich noch das bißchen sehe, wie dankbar müßte dann erst Ihr sein. Ich halte Euch doch auch nicht den ganzen Tag vor, daß Ihr ja froh sein müßt, und daß Ihr gegen mich noch topfit seid und ihr sehr glücklich sein müßt. Ich bin die Letzte, die anderen, wenn sie bei mir (über Kleinigkeiten) klagen, sagen würde: Schämt Euch, Ihr seid gesund, was wollt Ihr denn, was soll ich dann erst sagen? Aber ich mag es nicht, wenn andere ihre Situation unmittelbar mit meiner vergleichen und sagen: Sieh her, ich habe es auch schwer, ich bin Linkshänder, das ist auch nicht einfach. Außerdem möchte ich eben auch einmal einfach sagen dürfen, daß es schwierig ist, und daß man es einfach mal so stehen läßt als eben eine Tatsache, und daß es mir auch zusteht, das einmal aussprechen zu dürfen, ohne gleich wieder mit dem mahnenden Zeigefinger darauf hingewiesen zu werden, daß es anderen ja noch schlechter geht. Das mag sein, aber das hilft mir nichts, und ich möchte halt auch einfach mal meine Situation anerkannt wissen, oder einfach mal so im Alltag nicht auf jedes Wort achten müssen, wenn mir mal rausrutscht, herrje, es ist halt auch wieder mal verdammt schwierig! Das tun andere auch, und zwar bei wesentlich weniger schlimmen Sachen, und die werden dann auch nicht jedesmal zurechtgewiesen, daß sie es ja noch gut haben. Man läßt ihnen einfach das Recht, ihre Emotionen einmal kundzutun und läßt es dann einfach so stehen. Dasselbe wünsche ich mir auch! Ich habe es weiß Gott verdient!
Man kann nun wieder sagen: Sieh mal, verstehe doch die anderen, die sind dann hilflos und wissen nicht, was sie sagen sollen. Schon wieder sind wir beim Zeigefinger, beim Belehren und dabei, von mir Verständnis zu erwarten und mich zurückzunehmen. Dann dürfte ich ja mit gar niemandem mehr über meine Gefühle sprechen oder mal etwas sagen, denn ich könnte damit andere ja immer hilflos machen und belasten. Daher darf ich mich offenbar niemandem zumuten und muß mit meinen Gefühlen alleine bleiben. Denn wenn ich sie ausdrücke, kommen wieder solche Kommentare, die mir dann noch mehr wehtun. Aber zurück zum Verständnis der Hilflosigkeit anderer: Es ist reine Spekulation, ob sie hilflos sind. Es geht mir bei der Klage darum, meine Gefühle nicht ohne Ermahnungen anderer ausdrücken zu dürfen, nicth darum, andere anzuklagen, daß sie so böse sind, und daher braucht es den Reflex, die anderen zu verteidigen und deren Sichtweise einzunehmen eigentlich nicht. Alles, was ich will ist nur, meine Traurigkeit darüber auszudrücken, und wie es mir damit geht, wenn andere solche Kommentare zu meinen Beschwerden machen. Es geht nicht darum, die anderen zu beklagen, sondern ich möchte nur ausdrücken, wie weh mir das tut, und wie das für mich ist. Es geht mir darum, auszudrücken, was in mir in diesem M oment vorgeht, was bei mir dann los ist. Was die anderen denken, warum sie das tun, wieso sie sich so verhalten, ist reine Spekulation, gehört in diesem M oment nicht hierher, ist nicht Gegenstand der Debatte. DAs können ganz unterschiedliche Dinge sein. Es geht in diesem Moment nur darum, daß ich zeigen will, was das mit mir macht, ohne einen anderen anzuklagen. Der kann hilflos sein, der kann sich blöd vorkommen , der kann selbst mitgenommen und verzweifelt sein und weiß nicht, was er sagen soll. Aber dann wäre es auch schön, einfach zu sagen: Ich bin hilflos, ich weiß nicht weiter, ich bin auch verzweifelt. Das stellt uns auf die gleiche STufe, ohne daß jemand bemitleidet wird. Das ist echtes Mitgefühl und Mitteilung und Spiegelung der eigenen Gefühle. Daran merkt man, daß der andere bei einem ist. Diese Moralkommentare wie: Sieh mal, andere haben es noch schlechter, lassen mich einsam sein, geben mir noch Schuldgefühle, stempeln mich zum Egoisten ab, sprechen mir das Recht ab, meine Situation auch einmal als schwierig anzusehen, setzen mich noch unter Druck. Der andere stellt sich somit über mich. Es hört sich dann so an, als wüßte der andere immer eine Lösung und einen Trostsatz, nur ich sei so unfähig.
Das führt uns genau dahin, was ich sagen will: Andere stellen es immer so dar, als ginge es ihnen genauso, nur sie seien einfach weiter, hätten schon mehr Gelassenheit, könnten sich nur besser wehren, hätten nur schon besser gelernt, sich durchzusetzen als ich. Es sieht immer so als, als ginge es mir genauso wie den anderen, aber die seien eben besser, könnten mir noch Ratschläg e geben, wüßten eben alles einfach besser und könnten von oben herab pädagogisch auf mich einwirken. Dabei ist nichts gegen echte und hilfreiche Ratschläge zu sagen: Wo finde ich einen Anwalt? Wo bekomme ich Beratung? usw. Was ich aber oft feststelle ist, daß diese Leute gar nicht in meiner Situation sind, und daß ich, wäre ich in deren Lage, sicher genauso flott, genauso fit, genauso selbstbewußt und genauso tüchtig wäre. Daß ich nicht so gut zurechtkomme, liegt nicht etwa daran, daß ich schlechter oder unfähiger oder ungeduldiger oder schwächer bin als andere. Ich bin nämlich ziemlich tüchtig, ziemlich fit, ziemlich gewieft, ziemlich bewandert etc. Wären diese tollen Menschen, die alle so gelassen, so selbstbewußt, so tüchtig und so stark sind, in meiner Situation, würden sie sich sicher kein Deut besser verhalten oder keine Spur besser zurechtkommen als ich. Die anderen stellen eine Ungleichzheit her und stellen sich auf eine höhere Stufe als mich: "Ich bin AUCH in Deiner Situation, aber ich bin weiter, ich weiß schon, wie es geht." Ich hingegen sage: Ihr seid auf der gleichen Stufe wie ich, ich bin genauso weit und genauso fit wie Ihr, aber meine Situation ist eben einfach noch um einiges härter. Ich stelle mich nicht auf eine höhere Stufe und schaue auf andere herab: Seht mal, ich bin Dialysepatient und blind usw., ich meistere das alles, ich bin besser als Ihr. Ich sage aber: Schaut mich an, wie tapfer ich kämpfe, und dennoch gelingt nichts, und nicht etwa, weil ich dümmer bin als Ihr, sondern weil diese Situation tatsächlich fast nicht zu meistern ist, und wäret Ihr an meiner Stelle könntet Ihr es auch nicht besser machen als ich. Ihr wäret genauso verzweifelt, genauso hilflos, genauso belastet, genauso zermürbt. Anstatt mir laufend einzureden, daß unsere Situationen ähnlich schwierigsind, und daß ich es nur noch einfach "lernen" müßte, wie Ihr, damit umzugehen, wäre ich froh, es würde einmal jemand zu mir sagen: "Wenn ich in Deiner Situation wäre, wäre ich sicher oft genauso hilflos und verzweifelt wie Du, ich wundere mich, wie Du das alles immer schaffst, ich denke, da würde jeder mal zusammenbrechen." So habe ich zusätzlich zu all meinem Streß auch noch die Belastung, daß andere auf mich herabsehen und mir weismachen, daß es allen gleich geht, aber daß ich eben einfach nur mehr darunter leide als andere, weil ich empfindlicher bin.
Es gibt immer mal Situationen, wo die Handwerker pfuschen, es gibt immer mal Situationen, wo man mit Ärzten Probleme hat. Jeder hat schon einmal in einem Amt etwas nicht bekommen oder Ärger gehabt. Der Unterschied ist aber der, daß alles zusammengenommen gebündelt auf mich hereinbricht, daß es nicht abreißt, daß es nie Ruhe gibt. Jeder hat MAL irgendeinen Ärger. Viele haben keine Arbeit gefunden und sind lange arbeitslos. Aber sucht mir den, der all diese Dinge zusammen hat. Das, was ich in einem Monat erlebe, das erleben andere nicht in zwei Jahren. Es gibt immer Dialysepatienten, die mal ein Shunt-Problem haben, aber es gibt nicht allzuviele, die schon drei OPs und drei Aufdehnungen in zwei Jahren gemacht haben. Es gibt wenige, die bei jedem Handgriff einen Monat brauchen, bis er erledigt ist, weil es laufend Pannen gibt. Zusätzlich bin ich dann noch beim S ozialamt und habe auch dort oft Ärger. Zusätzlich sehe ich noch schlecht, was die Sache verkompliziert. Zusätzlich habe ich noch ein Händchen, daß bei mir laufend was kaputt geht. Zusätzlich habe ich noch das Problem, daß mir oft nicht geglaubt wird, wenn es mir nicht gut geht, und ich dann um eine Untersuchung kämpfen muß. ALL diese Sachen für sich genommen, können JEDEM Menschen passieren, einige davon sind Bagatellen. Aber nehmt alle diese Dinge zusammen: Dann habt Ihr mich! Und sucht mir mal jemanden, der so viele Einzelsachen mitmacht über einen so langen, nicht enden wollenden Zeitraum. Ich glaube schobn, daß es so etwas gibt, und daß es Menschen gibt, die vielleicht nicht das Gleiche aber ähnlich Schlimmes mitmachen müssen. Nur sind die dann sicher genauso zermürbt wie ich. Ich möchte nicht weiter dulden, daß andere auf mich herabsehen, mir Ratschläge geben aus einer Perspektive, von der aus sie meine Situation nicht einmal annähernd beurteilen können. Für andere sieht es immer so aus, als hätten wir beide dieselben Schwierigkeiten mit demselben Grad an Problemen, nur ich sei halt jemand, die wehlelidiger ist, und der man noch Ratschläge geben muß. Für andere ist nicht sichtbar, daß ich wesentlich mehr zu stemmen habe, weil sie immer nur einen Ausschnitt aus meinem Leben sehen. Von außen sieht es immer so aus, als sei das alles nicht schlimm. Das ist das eigentlich SChlimme daran, daß man meine Probleme von außen unterschätzt, daß man mich daher unterschätzt, daß ich im Verhältnis zu dem, was ich zu tragen habe, das eigentlich gut mache, und daß andere es daher besser machen als ich, weil sie zwar VIEL, aber nicht SO viel stemmen müssen. Diese Leute, die mir so tolle Ratschläge geben, wären in meiner Situation am Ende vielleicht ratloser als ich. Daher bitte ich um Zurückhaltung und einfacher Würdigung meiner Situation, was nichts mit Bemitleiden zu tun hat. Und der Spruch: Gib doch nicht immer gleich auf, ist eine Frechheit in Anbetracht all dessen, was ich im tagtäglichen Kampf zu erbringen habe. Es ist mir nicht egal, was andere denken, sonst würde ich bei solchen Kommentaren nur denken: L eckt mich doch am Arsch. Ich möchte nicht so als dummes Trutscherl angesehen werden, der man noch von oben herab etwas sagen kann, wo ich doch so viel meistern muß. Da tut man mir in meinem Ansehen einfach Unrecht! Und das stört mich, auch wenn jetzt alle wieder so cool daherreden und sagen: DAS würde MICH nicht stören, was die anderen sagen, ist mir egal! Ach, Ihr seid ja alle SOOO TOLL!!!!!

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