Dienstag, 26. März 2019

Virtuelle Realität auf Probe


noch vor Weihnachten erhielten wir einen Aufruf, wer Lust hätte, sich bei einem Studenten zu melden, der seine Doktorarbeit  zum Thema Orientierung mit Hilfe der virutellen Realität schrieb. Er wollte erforschen, ob man Blinden eine virtuelle Realität darbieten könnte, in der sie schon einmal die Wege üben könnten, die sie später dann real ablaufen müssten.

 

Ich meldete mich, sagte aber dazu, wenn er andere finden würde, könne er erst die nehmen, ich würde dann notfalls auch zur Verfügung stehen. Prompt erhielt ich kurz vor Weihnachten einen Anruf, ob ich denn mitmachen wollte. Da ich kurzfristig nichts anderes vor hatte,  bot ich an, drei Tage später zu ihm kommen zu können, und er möge mich an der U-Bahn Haltestelle abholen.

 

Ich wurde abgeholt, und nach einer längeren Odyssee durch das recht komplizierte Gebäude landeten wir dann in seinem Arbeitszimmer. In der Mitte gab es die sogenannte  Tretmühle, eine Art Laufstall, um den herum stativartige Säulen angebracht waren, die in der Mitte zusammen gingen. Um den Laufstall herum gab es ein Geländer, über das ich drüber steigen musste. Ich bekam glatte Schuhe an, um auf dem rutschigen Boden im Laufstall gut hin- und her fahren zu können. Um nicht zu stürzen, wurde ich in eine Art Geschirr gestellt, das zwischen den Beinen und um den Körper herum führte, um einen festzuhalten. Das Geschirr war an dem     Geländer  des Laufstalls angebracht, sodass man  sich rundherum drehen konnte, und das Geschirr am Geländer entlang rutschen konnte. Dies diente dazu,  dass das Gerät wusste, in welche Richtung man sich im Moment hingedreht hatte. Es war etwas schwierig, über das Geländer zu steigen, aber der Student half mir, und ich konnte mit dem einen Fuß auf einer rutschfesten Matte stehen.  Dann erhielt ich eine virtuelle Brille auf, nicht etwa, damit ich etwas dadurch sehen konnte, sondern, damit der Computer und die Infrarot Kamera wüssten,. wo ich hinschaue. Als der Student merkte, dass ich mit den visuellen Eindrücken, die über die Brille eingespielt wurden, nicht viel anfangen kann,  stellte er die Brille so ein , dass ich selber nur noch eine dunkle Fläche sehen konnte. Zur Orientierung erhielt ich auch noch ein paar Kopfhörer auf die Ohren, um akustische Quellen erfassen zu können. Als virtuellen Langstock erhielt ich eine Art Controller, den ich hin- und her pendeln konnte.

 

Meine Aufgabe war es nun, einen vorher eingestellten Weg zu gehen. Ich bekam ein Tastmodell in die Hand, auf dem der Weg taktil zu erfassen war. Eigentlich war der Weg nicht schwierig, aber ich habe  keine  sehr  gute Orientierung. Jedes Mal, wenn ich mit dem Stock zu einer Seite pendelte, vibrierte der Controller. Es gab eine Art  vibro- reality und eine forced reality, eine Art erzwungener Realität,  Letztere wäre aber noch eine Stufe höher gewesen, sodass man das Gefühl hätte, mit dem Stock tatsächlich an eine Bande zu stoßen. Auf den Kopfhörern hatte ich nun einen Brunnen, der sich je nachdem, wie ich den Kopf drehte, mehr zum einen oder mehr zum anderen Ohr zu bewegen schien, bzw. sollte der Eindruck entstehen, dass die Geräuschquelle sich jedes Mal gemäß meinen Bewegungen entsprechend verändert. Nun sollte ich mit den Füßen Bewegungen machen, die ich vom Schlittschuhlaufen her kenne, was mir also nicht sonderlich schwer fiel. Allerdings erfasste das Gerät meine Füße häufig nicht, und wir mussten mehrfach eine Art Kalibrierung durchführen, wobei ich mich um 360° um die eigene Achse drehen musste, damit das Gerät sich wieder neu einstellen konnte. Endlich hatte das Gerät meine Füße erfasst, und ich konnte loslaufen. In dem Geschirr hätte mir auf keinen Fall etwas passieren können, denn egal, ob ich gestürzt wäre, oder ob ich mich einfach hineingehängt hätte, es hätte mich festgehalten, wie bei kleinen Kindern, die das Laufen lernen. Ich lief also los und wollte an der Wand bleiben, an der die  Abzweigung kommen musste, damit ich dann, sobald die Lücke kommen würde, , schnell nach links bzw. nach rechts abbiegen konnte. Ich fand aber immer nur die andere Wand, und ich hätte einfach nur um die Ecke laufen müssen, sodass der Stock immer zum Beispiel an der rechten Wand anstieß, und dann wäre ich automatisch sowieso immer auf der richtigen Seite gewesen. Soweit habe ich aber mit meiner eingeschränkten Denkweise nicht gedacht. Ich war immer nur auf die kleine Kurve fixiert, also so lange an der Wand gehen, bis die Lücke kommt, anstatt einfach mal mit zu denken und an der Stirnseite die große Kurve mitzumachen. Es war also schwierig, mich da hinein zu denken. Irgendwann lief ich dann durch, und ehe ich mich versah, war ich schon am Ende des  Labyrinths, ohne, dass ich  die  Kurven überhaupt mitbekommen hätte. Die Drehungen blieben mir immer irgendwie verborgen, ich hatte immer das Gefühl, nur geradeaus zu gehen oder halt irgendwie zu laufen. Es war also für mich fast unmöglich, da ich schon im normalen Leben kaum Orientierung habe. Ich war also ziemlich frustriert, aber ich wollte es probieren, bis es klappt. Meine Befürchtung war, dass ich vielleicht eine Art Seekrankheit kriegen könnte, da ja dem Gehirn suggeriert wird, dass man sich fortbewegt, der Körper aber das Gefühl hat, stehen zu bleiben. Bei einigen Kamera-Brillen für Sehbehinderte ,  die ich zur Vergrößerung einmal aufgesetzt hatte, mit denen man auch lesen kann, wurde mir schlecht, als ob man während  des Autofahrens liest. Denn vom Gehirn her hat man das Gefühl, die Augen bleiben stehen, wohingegen der Körper das Gefühl hat, dass man fährt. Das bringt das Gehirn nicht zusammen, wodurch einem übel wird. Aber zum Glück war dies nicht der Fall in diesem Experiment, ich hätte ununterbrochen weitermachen können, aber da ich sowieso keine weiteren Fortschritte mehr machte, sah ich keinen Sinn darin,  es noch weiterhin zu probieren, und irgendwann hörten wir dann auch auf. Ich sollte dann noch einen Fragebogen ausfüllen, der nur in Englisch da war, da ich aber sowieso Englisch studiert hatte, meinte er, für mich sei das kein Problem. Es war sogar ein Wort dabei, welches ich noch nie gehört hatte, nun ist es mir leider wieder entfallen, da mein Gedächtnis mittlerweile extrem nachgelassen hat.

 

Da ich ja bei einem alternativen Radiosender ehrenamtlich in einer Redaktion für blinde und Sehbehinderte  mitarbeite,   habe ich dann auch gleich die Gelegenheit genutzt, um mit ihm ein Interview zu führen. Dabei erklärte er mir, dass er hier Grundlagenforschung Betriebe, und dass dies kein Prototyp für ein etwa ab jetzt bald käuflich erwerbbares Gerät sein würde, wie ich es mir vorgestellt hatte, welches dann vielleicht bei Blindenverbänden herumstehen würde, und welches man sich für 1 Stunde mieten könnte, um Wege vorher schon einmal zu üben, die man später würde gehen müssen. Vielmehr dient diese Forschung dazu, überhaupt zu überlegen, wie man Blinden mithilfe der virtuellen Realität helfen könnte, sich besser zu orientieren. Hier wären  beispielsweise auch bewegliche taktile Modelle eine Möglichkeit, oder andere Dinge, die an der Kleidung angebracht würden, um einen in die richtige Richtung zu führen. Das System funktionierte ähnlich wie der Mensch selbst, das Gehirn war sozusagen der Computer, die Infrarotkameras an der Decke waren die Augen, der Controller in der Hand war der weiße Stock. Der Computer hatte sozusagen den Plan, wo man hingehen sollte, die Infrarotkamera erfasste, wo sich derjenige Grad befand, und in der Tretmühle am Boden wurde registriert, wo man gerade lief. Der Computer gab also die Informationen an den Controller über Funk, wo im Bezug auf den Körper das nächste Hindernis war, sodass man das Gefühl hatte, daran zu stoßen. Die Infrarot Kamera erfasste wiederum, wie man sich gedreht hatte und meldete dies zurück an den Computer, der  die Route  daraufhin wieder neu berechnete. So entstand ein Kreislauf.

 

Der Student erklärte mir, dass ein weiteres Experiment in Planung war, dass man zum Beispiel einen Datenhandschuh in die Hand bekäme, um Modelle, die dann nicht extra erst taktil hergestellt werden müssten, zu ertasten. Durch die  forced reality würde man sozusagen das Gefühl haben, harte Gegenstände abzutasten. Man könnte so ein Modell des Kölner Doms, des Straßburger Münsters, eines Dinosauriers oder der Freiheitsstatue erhalten, ohne, dass dies extra nachgebildet werden müsste, oder ohne, dass man es würde sehen müssen. Ich fand dies faszinierend, denn so könnte man endlich mal die Gelegenheit bekommen, Dinge anzufassen, die man sonst niemals verstehen würde, und die Sehende einfach mal soeben im Fernsehen geliefert bekommen. So habe ich zum Beispiel während der Theaterproben immer die Gelegenheit genutzt, auf der Bühne bereits aufgebaute Kulissen zu ertasten, denn wann hat man im wirklichen Leben schon mal die Möglichkeit, alte Kleider aus anderen Epochen, eine Panzerfaust, irgendwelche anderen Waffen oder einen Sarg abzutasten, nicht etwa, weil ich so etwas unbedingt mal anfassen wollte, sondern weil ich denke, dass man das auch einmal einfach, wenn nicht unter den Augen, dann  zumindest unter den Fingern gehabt haben muss, um  wie jeder andere auch mitreden zu können.

 

Da ich, als ich noch besser gesehen hatte, häufig Schlittschuh gefahren bin, ist es mir nicht schwer gefallen, in dem Laufstall mich fortzubewegen, wie man es machen sollte. Allerdings hatte ich aufgrund meiner starken Orientierungsschwierigkeiten dann wieder in anderen Punkten Probleme, wie ich sie hier beschrieben hatte. Der Student meinte, dass jeder irgendeine andere Schwierigkeit oder eine andere Fähigkeit hatte, die wiederum der andere nicht hatte. Ich werde auf jeden Fall bei dem anderen Experiment  mit dem Datenhandschuh  ebenfalls mitmachen, denn es ist schon faszinierend, zu erleben, dass man dann Dinge, die man normalerweise nicht machen kann, auch mal tun kann. Und dazu gehört eben auch, Dinge zu erfassen, die man mit den Augen eben nicht mit kriegen kann. Daher finde ich es gut, dass sich immer mehr und mehr Leute und auch Institutionen und Forschungseinrichtungen mit diesen Themen befassen.

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