noch vor Weihnachten erhielten wir einen Aufruf, wer Lust
hätte, sich bei einem Studenten zu melden, der seine Doktorarbeit zum Thema Orientierung mit Hilfe der
virutellen Realität schrieb. Er wollte erforschen, ob man Blinden eine
virtuelle Realität darbieten könnte, in der sie schon einmal die Wege üben
könnten, die sie später dann real ablaufen müssten.
Ich meldete mich, sagte aber dazu, wenn er andere finden
würde, könne er erst die nehmen, ich würde dann notfalls auch zur Verfügung
stehen. Prompt erhielt ich kurz vor Weihnachten einen Anruf, ob ich denn
mitmachen wollte. Da ich kurzfristig nichts anderes vor hatte, bot ich an, drei Tage später zu ihm kommen zu
können, und er möge mich an der U-Bahn Haltestelle abholen.
Ich wurde abgeholt, und nach einer längeren Odyssee durch
das recht komplizierte Gebäude landeten wir dann in seinem Arbeitszimmer. In
der Mitte gab es die sogenannte
Tretmühle, eine Art Laufstall, um den herum stativartige Säulen
angebracht waren, die in der Mitte zusammen gingen. Um den Laufstall herum gab
es ein Geländer, über das ich drüber steigen musste. Ich bekam glatte Schuhe
an, um auf dem rutschigen Boden im Laufstall gut hin- und her fahren zu können.
Um nicht zu stürzen, wurde ich in eine Art Geschirr gestellt, das zwischen den
Beinen und um den Körper herum führte, um einen festzuhalten. Das Geschirr war
an dem Geländer des Laufstalls angebracht, sodass man sich rundherum drehen konnte, und das Geschirr
am Geländer entlang rutschen konnte. Dies diente dazu, dass das Gerät wusste, in welche Richtung man
sich im Moment hingedreht hatte. Es war etwas schwierig, über das Geländer zu
steigen, aber der Student half mir, und ich konnte mit dem einen Fuß auf einer
rutschfesten Matte stehen. Dann erhielt
ich eine virtuelle Brille auf, nicht etwa, damit ich etwas dadurch sehen
konnte, sondern, damit der Computer und die Infrarot Kamera wüssten,. wo ich
hinschaue. Als der Student merkte, dass ich mit den visuellen Eindrücken, die
über die Brille eingespielt wurden, nicht viel anfangen kann, stellte er die Brille so ein , dass ich selber
nur noch eine dunkle Fläche sehen konnte. Zur Orientierung erhielt ich auch
noch ein paar Kopfhörer auf die Ohren, um akustische Quellen erfassen zu
können. Als virtuellen Langstock erhielt ich eine Art Controller, den ich hin-
und her pendeln konnte.
Meine Aufgabe war es nun, einen vorher eingestellten Weg zu
gehen. Ich bekam ein Tastmodell in die Hand, auf dem der Weg taktil zu erfassen
war. Eigentlich war der Weg nicht schwierig, aber ich habe keine
sehr gute Orientierung. Jedes
Mal, wenn ich mit dem Stock zu einer Seite pendelte, vibrierte der Controller.
Es gab eine Art vibro- reality und eine forced
reality, eine Art erzwungener Realität, Letztere wäre aber noch eine Stufe höher
gewesen, sodass man das Gefühl hätte, mit dem Stock tatsächlich an eine Bande
zu stoßen. Auf den Kopfhörern hatte ich nun einen Brunnen, der sich je nachdem,
wie ich den Kopf drehte, mehr zum einen oder mehr zum anderen Ohr zu bewegen
schien, bzw. sollte der Eindruck entstehen, dass die Geräuschquelle sich jedes
Mal gemäß meinen Bewegungen entsprechend verändert. Nun sollte ich mit den Füßen
Bewegungen machen, die ich vom Schlittschuhlaufen her kenne, was mir also nicht
sonderlich schwer fiel. Allerdings erfasste das Gerät meine Füße häufig nicht,
und wir mussten mehrfach eine Art Kalibrierung durchführen, wobei ich mich um
360° um die eigene Achse drehen musste, damit das Gerät sich wieder neu
einstellen konnte. Endlich hatte das Gerät meine Füße erfasst, und ich konnte
loslaufen. In dem Geschirr hätte mir auf keinen Fall etwas passieren können,
denn egal, ob ich gestürzt wäre, oder ob ich mich einfach hineingehängt hätte,
es hätte mich festgehalten, wie bei kleinen Kindern, die das Laufen lernen. Ich
lief also los und wollte an der Wand bleiben, an der die Abzweigung kommen musste, damit ich dann,
sobald die Lücke kommen würde, , schnell nach links bzw. nach rechts abbiegen
konnte. Ich fand aber immer nur die andere Wand, und ich hätte einfach nur um
die Ecke laufen müssen, sodass der Stock immer zum Beispiel an der rechten Wand
anstieß, und dann wäre ich automatisch sowieso immer auf der richtigen Seite
gewesen. Soweit habe ich aber mit meiner eingeschränkten Denkweise nicht
gedacht. Ich war immer nur auf die kleine Kurve fixiert, also so lange an der
Wand gehen, bis die Lücke kommt, anstatt einfach mal mit zu denken und an der
Stirnseite die große Kurve mitzumachen. Es war also schwierig, mich da hinein
zu denken. Irgendwann lief ich dann durch, und ehe ich mich versah, war ich
schon am Ende des Labyrinths, ohne, dass
ich die
Kurven überhaupt mitbekommen hätte. Die Drehungen blieben mir immer
irgendwie verborgen, ich hatte immer das Gefühl, nur geradeaus zu gehen oder halt
irgendwie zu laufen. Es war also für mich fast unmöglich, da ich schon im
normalen Leben kaum Orientierung habe. Ich war also ziemlich frustriert, aber
ich wollte es probieren, bis es klappt. Meine Befürchtung war, dass ich
vielleicht eine Art Seekrankheit kriegen könnte, da ja dem Gehirn suggeriert
wird, dass man sich fortbewegt, der Körper aber das Gefühl hat, stehen zu
bleiben. Bei einigen Kamera-Brillen für Sehbehinderte , die ich zur Vergrößerung einmal aufgesetzt
hatte, mit denen man auch lesen kann, wurde mir schlecht, als ob man während des Autofahrens liest. Denn vom Gehirn her
hat man das Gefühl, die Augen bleiben stehen, wohingegen der Körper das Gefühl
hat, dass man fährt. Das bringt das Gehirn nicht zusammen, wodurch einem übel
wird. Aber zum Glück war dies nicht der Fall in diesem Experiment, ich hätte
ununterbrochen weitermachen können, aber da ich sowieso keine weiteren
Fortschritte mehr machte, sah ich keinen Sinn darin, es noch weiterhin zu probieren, und irgendwann
hörten wir dann auch auf. Ich sollte dann noch einen Fragebogen ausfüllen, der
nur in Englisch da war, da ich aber sowieso Englisch studiert hatte, meinte er,
für mich sei das kein Problem. Es war sogar ein Wort dabei, welches ich noch
nie gehört hatte, nun ist es mir leider wieder entfallen, da mein Gedächtnis
mittlerweile extrem nachgelassen hat.
Da ich ja bei einem alternativen Radiosender ehrenamtlich in
einer Redaktion für blinde und Sehbehinderte mitarbeite, habe
ich dann auch gleich die Gelegenheit genutzt, um mit ihm ein Interview zu
führen. Dabei erklärte er mir, dass er hier Grundlagenforschung Betriebe, und
dass dies kein Prototyp für ein etwa ab jetzt bald käuflich erwerbbares Gerät
sein würde, wie ich es mir vorgestellt hatte, welches dann vielleicht bei
Blindenverbänden herumstehen würde, und welches man sich für 1 Stunde mieten
könnte, um Wege vorher schon einmal zu üben, die man später würde gehen müssen.
Vielmehr dient diese Forschung dazu, überhaupt zu überlegen, wie man Blinden
mithilfe der virtuellen Realität helfen könnte, sich besser zu orientieren.
Hier wären beispielsweise auch
bewegliche taktile Modelle eine Möglichkeit, oder andere Dinge, die an der
Kleidung angebracht würden, um einen in die richtige Richtung zu führen. Das
System funktionierte ähnlich wie der Mensch selbst, das Gehirn war sozusagen
der Computer, die Infrarotkameras an der Decke waren die Augen, der Controller
in der Hand war der weiße Stock. Der Computer hatte sozusagen den Plan, wo man
hingehen sollte, die Infrarotkamera erfasste, wo sich derjenige Grad befand, und
in der Tretmühle am Boden wurde registriert, wo man gerade lief. Der Computer
gab also die Informationen an den Controller über Funk, wo im Bezug auf den
Körper das nächste Hindernis war, sodass man das Gefühl hatte, daran zu stoßen.
Die Infrarot Kamera erfasste wiederum, wie man sich gedreht hatte und meldete
dies zurück an den Computer, der die
Route daraufhin wieder neu berechnete.
So entstand ein Kreislauf.
Der Student erklärte mir, dass ein weiteres Experiment in
Planung war, dass man zum Beispiel einen Datenhandschuh in die Hand bekäme, um
Modelle, die dann nicht extra erst taktil hergestellt werden müssten, zu
ertasten. Durch die forced reality würde
man sozusagen das Gefühl haben, harte Gegenstände abzutasten. Man könnte so ein
Modell des Kölner Doms, des Straßburger Münsters, eines Dinosauriers oder der
Freiheitsstatue erhalten, ohne, dass dies extra nachgebildet werden müsste,
oder ohne, dass man es würde sehen müssen. Ich fand dies faszinierend, denn so
könnte man endlich mal die Gelegenheit bekommen, Dinge anzufassen, die man
sonst niemals verstehen würde, und die Sehende einfach mal soeben im Fernsehen
geliefert bekommen. So habe ich zum Beispiel während der Theaterproben immer
die Gelegenheit genutzt, auf der Bühne bereits aufgebaute Kulissen zu ertasten,
denn wann hat man im wirklichen Leben schon mal die Möglichkeit, alte Kleider
aus anderen Epochen, eine Panzerfaust, irgendwelche anderen Waffen oder einen Sarg
abzutasten, nicht etwa, weil ich so etwas unbedingt mal anfassen wollte,
sondern weil ich denke, dass man das auch einmal einfach, wenn nicht unter den
Augen, dann zumindest unter den Fingern
gehabt haben muss, um wie jeder andere
auch mitreden zu können.
Da ich, als ich noch besser gesehen hatte, häufig
Schlittschuh gefahren bin, ist es mir nicht schwer gefallen, in dem Laufstall
mich fortzubewegen, wie man es machen sollte. Allerdings hatte ich aufgrund
meiner starken Orientierungsschwierigkeiten dann wieder in anderen Punkten
Probleme, wie ich sie hier beschrieben hatte. Der Student meinte, dass jeder
irgendeine andere Schwierigkeit oder eine andere Fähigkeit hatte, die wiederum
der andere nicht hatte. Ich werde auf jeden Fall bei dem anderen Experiment mit dem Datenhandschuh ebenfalls mitmachen, denn es ist schon
faszinierend, zu erleben, dass man dann Dinge, die man normalerweise nicht machen
kann, auch mal tun kann. Und dazu gehört eben auch, Dinge zu erfassen, die man
mit den Augen eben nicht mit kriegen kann. Daher finde ich es gut, dass sich
immer mehr und mehr Leute und auch Institutionen und Forschungseinrichtungen
mit diesen Themen befassen.
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