vor einigen Tagen habe ich ein Medikament in der Apotheke
abgeholt. Das Medikament, welches mir wegen meiner zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmusstörung
verordnet wird, ist ziemlich schwer zu beschaffen, weil es direkt über die Firma bestellt werden muss.
Ein einziges Mal hatten wir Glück, da kam es dann schon am nächsten Tag.
Normalerweise dauert es mehrere Tage, bis das Medikament in der Apotheke abholbereit
ist.
Somit bin ich noch am Gründonnerstag extra zum Neurologen
gerannt, um das Rezept noch rechtzeitig vor Ostern zu bekommen, denn das
Medikament würde in zehn Tagen auslaufen. Ich dachte, zehn Tage sind nun
wirklich eine lange Vorlaufzeit, auch wenn Ostern dazwischen ist. Am Mittwoch
den 24. April kam ich dann in den Laden, nein, das Medikament sei noch nicht
da, wahrscheinlich sei es über Ostern in der Firma liegen geblieben. Am Vormittag
des 25. war es auch noch nicht da. Somit
bat ich die Apothekerin, mir doch unbedingt die Nummer dieser Firma zu geben.
Ich versicherte michzuvor nochmals, ob
die Apotheke es wirklich auch am 18. bereits an die Firma gefaxt hatte,
natürlich, das hätte man doch freilich selbstverständlich auch so gemacht.
Als ich dann in der Firma anrief und denen erklärte, dass
ich jedes Mal so lange auf das Medikament warten müsste, meinten die, dass sie
niemals länger als drei Tage für die Lieferung bräuchten. Sie schaute dann auch
nach, da ich ihr die Postleitzahl der Apotheke nannte, und erklärte mir, das
Fax sei erst am 23., also am Dienstag nach Ostern gesendet worden. Dann kann
natürlich die Bestellung nicht schon am 24. da sein. Ich hatte nur noch zwei
Pillen, und das Medikament darf unter keinen
Umständen abgesetzt werden, denn sonst ist der ganze Erfolg dahin, denn
die innere Uhr muss dann wieder mühsam neu gestellt werden.
Am 25. erhielt ich dann am Nachmittag einen Anruf von der
Apotheke, das Medikament sei dar. Obwohl ich noch zwei Pillen hatte, dachte
ich, jetzt, da ich so einen Dampf gemacht hatte, muss ich es natürlich auch
schnell abholen, sonst denken die womöglich, erst tritt sie uns in den Hintern,
und dann will sie es gar nicht abholen. Somit ging ich los und überquerte die
etwas gefährliche Kreuzung. Es gibt keine Ampel, die Straße ist auch sehr
schmal, aber die Ecken sind nicht im 90° Winkel, sondern die Häuser sind
achteckig gebaut, und somit ist alles etwas unübersichtlich. Ich wollte gerade
auf den Gehsteig der gegenüberliegenden Seite treten, da hörte ich ein lautes
Hupen, und links neben mir merkte ich, dass ein Auto rückwärts fuhr und mich beinahe
am Bein berührte. Dann merkte ich, dass die rechte Fahrertür aufging, und ich
schrie ganz laut, was fällt Ihnen ein, hier einfach zurückzusetzen, wenn ich
noch hinter ihnen bin. Schließlich hatte ich ja meinen weißen Stock dabei. Es
wurde nichts gesagt, sondern das Auto fuhr weiter. Da wir in Deutschland keinen
Linksverkehr haben, musste das Auto rückwärts gefahren sein, um womöglich aus
der Parklücke zu kommen, und statt auf mich zu achten, oder zu schauen, was
hinter dem Auto ist, ist man einfach losgefahren. Zum Glück ist nicht viel passiert.
Ich ging in die Apotheke und wurde gleich beim Eintreten mit Hallo
begrüßt, wobei ich dann jedes Mal denke, ich sei die einzige Kundin, denn wenn
sie noch beschäftigt sind, reden sie ja normalerweise mit der Kundin, die noch
dran ist. Ich habe sonst auch niemanden gesehen, weil ich dazu zu wenig
Sehvermögen habe. Somit legte ich sofort los und erzählte der Apothekerin, dass
ich beinahe angefahren worden wäre, und die Apothekerin erschrak. Dann erzählte
ich mit viel Temperament und Vehemenz, dass ich dem Fahrer ordentlich einen
mitgegeben hatte, und was ich gesagt habe. Daraufhin meinte dann die
Apothekerin auch noch, nun ja, es passt halt nicht jeder auf. Wäre ich
schlagfertig gewesen, hätte ich wahrscheinlich gesagt, ach so, na dann, dann
kann man das natürlich entschuldigen. Es nützt mir natürlich nichts, auf meinem
Recht zu beharren, dass ich Fußgänger bin und einen weißen Stock habe, denn
wenn ich tot bin, hilft mir das schließlich auch nicht mehr, wenn auf meinem
Grabstein steht, hier ruht Herr Müller, er hatte Vorfahrt. Aber ich kann es ja
nun wirklich nicht sehen, daher kann ich hier nicht pragmatisch vorgehen, und
einfach denken, die passen nicht auf, daher tue ich es lieber, wenn mir mein
Leben lieb ist. Ich bin tatsächlich auf die Aufmerksamkeit der Autofahrer
angewiesen. Daher ärgern mich solche Sprüche, dann auch noch den Autofahrer in
Schutz zu nehmen. Nun ja, es passt halt nicht jeder auf, wenn Du dann tot
gefahren bist, kann man halt auch nichts machen, man könne schließlich nicht
von jedem erwarten, dass er immer aufmerksam ist, wenn er gerade den Rückwärtsgang einlegt.
Am nächsten Tag rief dann die betreuende Schwester von der
Organisation an, die die Patienten begleitet, welche dieses neue Medikament
bekommen. Ich erzählte ihr, dass die Beschaffung des Medikaments zu schwierig
ist, denn ich hatte schon am 18. April das Rezept eingereicht, das Medikament
ließ so lange auf sich warten, und als ich dann am 25. Recherchen bei der Firma
anstellte, hatte sich doch tatsächlich herausgestellt, dass die Apotheke das
Rezept erst am 23. dorthin gefaxt hatte. Sie meinte, ihre Firma würde das immer
rechtzeitig liefern, das könne keine zehn Tage dauern, aber sie hätte schon
häufiger gehört, dass Apotheken das Rezept erst einmal liegen lassen und dann
zu spät losschicken, nun ja, das seien halt auch nur Menschen. Schon wieder
wurde an mein Verständnis appelliert.
Ich sagte, aber die Apotheke weiß, wie schwer das Medikament
zu bekommen ist, wie lange es dauert, wie umständlich es ist, wie dringend ich
es brauche, und sie haben auch mitgekriegt, wie schwer es mir fällt, dann auch
noch kurz vor Ostern zum Arzt zu rennen und dann zu ihnen zu kommen, um das Rezept abzuliefern, denn die Apotheke kennt
mich ja. Da meinte sie dann auch noch, und da erwarten sie dann, dass sie das
auch pünktlich tun. Das hörte sich so an, als sei das eine ganz exotische und
völlig unbotmäßige und völlig überzogene und befremdliche Erwartung. Ich
meinte, natürlich, zurecht. Dann stimmte sie mir notgedrungen zu. Ich finde es
fürchterlich, dass ich immer um Empathie und Zustimmung betteln muss.
Natürlich haben die anderen eine große Fantasie, sich
lebhaft vorzustellen, wie es im Geschäftsleben zugeht, und dass die Menschen
nicht immer die Zeit haben, auf spezielle Bedürfnisse von Menschen mit
speziellen Einschränkungen einzugehen. Man hat aber nicht die Fantasie, sich
vorzustellen, wie schwer es für Menschen mit speziellen Einschränkungen ist,
sich diesen Gegebenheiten anzupassen. Somit besteht hier ein Ungleichgewicht.
Man will natürlich damit auch zeigen, wie umsichtig und objektiv man ist, und
wie viel man vom Alltagsleben und von der Wirtschaft versteht, und man will
mich zu einem trotzigen anspruchsvollen Kind degradieren, dass man noch
erziehen muss, und dem man die andere Perspektive immer wieder mal aufzeigen
muss. Bei richtigen Erwachsenen kann man sich hingegen erlauben, auch mal mit
demjenigen mit zu schimpfen und zu sagen, da haben Sie recht, so geht das
eigentlich nicht. Bei Kindern meint man, man müsse denen schon noch die andere
Seite nahebringen, denn schließlich dürfe man sie nicht zu sehr verwöhnen und
müsse ihnen noch was beibringen. Und ich gehöre halt leider mein Leben lang zu
den Kindern.
Ich weiß durchaus, was man erwarten kann und was nicht, aber
ich stehe damit immer ganz alleine da. Auch bin ich kein trotziges und unreifes
Kind, das nicht in der Lage ist, die Perspektive seiner Umwelt zu verstehen. Es
geht auch bei Leibe nicht darum, dass jemand mir beipflichten möge, dass diese
Menschen einfach blöd und unbedacht und rücksichtslos und gemein sind. Es geht
aber einfach mal darum, meine Lebensrealität zu würdigen und auch mal
Verständnis für meine Seite zu haben, und sich genauso lebhaft und genauso empathisch in meine Situation hinein zu
denken, wie man es auch in die andere Richtung tut.
Ich fürchte, wenn mich mal jemand vergewaltigt, würde
wahrscheinlich auch noch jemand sagen, nun ja, solche Idioten gibt es eben nun
mal überall, es kann sich ja nicht jeder zurückhalten, der hatte halt auch
mal ein Bedürfnis. Ich hab ehrlich gesagt nicht länger Lust, immer wieder meine
eigene Vernachlässigung, Missachtung oder schlechte Behandlung verstehen zu
müssen.
Als mich einmal jemand ganz rüde zur Seite stieß und mich
auch noch anschrie, pass doch gefälligst auf, lass mich halt vorbei, oder als
jemand mich zur Seite schubste mit den Worten, oh Mann, geht das nicht
schneller, sagen meine Begleiter immer, ich müsse das doch verstehen, es könne
doch nicht jeder mit Behinderten umgehen. Dass man das generell bei Menschen
nicht tut, ob sie nun behindert sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle.
Meine Assistentin erklärte mir, ihre Freunde fänden es merkwürdig, dass sie
einen Beruf ergriffen hätte, wo man mit Behinderten arbeitet, denn schließlich
könne das nicht jeder. Ich sollte also doch verstehen, dass Behinderte für
andere Menschen etwas Fremdes sein, und dass andere daher manchmal ein
Verhalten an den Tag legen würden, dass eben nicht angemessen sei, und nicht
jeder wisse doch, wie man mit behinderten umgeht Nicht jeder sei halt so sensibel. .
Bei mir ist wirklich das Ende der Geduld erreicht. Und ich
möchte eben auch, dass meine Perspektive gewürdigt wird, was nichts mit
Parteilichkeit sondern mit absoluter Neutralität zu tun hat. Unter dem
Deckmantel der Neutralität wird mir meistens jegliche Empathie verweigert
und prinzipiell nur die andere Seite in Schutz genommen, so
a la advocatus diaboli.
Wenn ich zu einer Freundin sage, wie schwierig ist das für
mich, wo sich jetzt wieder die Geldautomaten geändert haben, damit
klarzukommen, wollte ich ihr lediglich meine Lebensrealität schildern. ich wollte einfach nur ihr Mitgefühl und ihre
Empathie, was jetzt wieder viele Zeitgenossen als Mitleidheischen auffassen.
Das tut nämlich auch manchmal gut. Und es zeigt den anderen auch, dass sie
manchmal einfach auch nicht wissen, dass bei unsereinem vieles an ganz vielen
Kleinigkeiten hängt. Mir hätte es gereicht, wenn sie einfach nur gesagt hätte,
Mensch, da sieht man mal, an was das alles hängt, und was ihr alles zu beachten
habt, das können wir uns oft gar nicht
vorstellen… . Stattdessen hielt sie mir dann einen Vortrag darüber, dass die
Informatiker es einfach noch nicht geschafft hätten, alle Automaten
umzustellen, und die hätten doch auch eine Freizeit, und einen Alltag, und die
könnten doch auch nicht alles machen, und ich müsse das doch verstehen. Sie
wollte mir natürlich damit zeigen, wie Welt gewandt sie ist, und was sie alles
aus dem Arbeitsleben weiß, und wie viel Einblick sie in die Vorgänge von
Softwareentwicklung hat, wer weiß, ob das so stimmt. Ich stand da und meinte,
ich möchte doch einfach nur Dein Mitgefühl haben, aber ich habe nicht ihr Herz
erreicht. So geht dass mir häufig, ich glaube, das Herz des Lesers würde ich
damit auch nicht erreichen, weil das mehr so wirkt, als ob ich jammern würde.
Einmal tröstend in den Arm genommen zu werden hätte mir gereicht.
Natürlich ändert sich dadurch nichts, wenn mir andere sagen,
ja, das ist schwierig, aber es tut einfach mal gut. Außerdem weckt es auch das
Bewusstsein der anderen, wo wir Probleme haben, und wo vielleicht einige Dinge
geändert werden müssten. Es gibt auch einen Einblick in unseren Alltag, wodurch
vielleicht manche sich dreimal überlegen, ob sie sich jetzt schon wieder vor
mich hinstellen und darüber jammern, dass sie schon wieder eine neue Lesebrille
brauchen. Oder es gibt vielleicht auch einen Einblick darin, welche
Anstrengungen jemand mit Behinderung vollziehen muss, und dass es vielleicht daher
nicht immer angebracht ist, mir einen Vortrag darüber zu halten, dass man doch
etwas geduldiger, gelassener und stärker
sein müsse, und dass man doch auch manchmal flexibel sein müsse und Dinge
hinnehmen müsse, denn genau das tun wir ja schließlich schon den ganzen Tag. Genau das möchte ich
hier mit diesen Beispielen belegen, damit andere auch sehen, wir sitzen nicht
nur faul da und lassen uns bedienen und jammern über unser Schicksal, sondern
wir müssen den Löwenanteil der Anpassung
und der Alltagsbewältigung eigentlich
noch immer alleine leisten. Das
gilt auch dann, wenn ich erzähle, das vor meinem Haus eine riesengroße
Baustelle ist, und es für mich nahezu gefährlich ist, den anderen Weg über die
Straße zu nehmen. Die meisten erklären mir dann aber, dass sie auch eine
Baustelle vor der Haustür hätten, und dass das einfach lästig ist. Es hätte mir
einfach mal gut getan, wenn ich mal jemanden gehabt hätte, der mir einfach mal
sagt, ich glaube Dir schon, dass das schwierig ist, wenn man nicht sieht. Das
hat nichts mit bemitleiden oder Bedauern zu tun, sondern einfach nur damit, die
Schwierigkeiten und Herausforderungen eines anderen Menschen zu würdigen und
anzuerkennen und seine Ungeduld oder Ungehaltenheit über permanente im
Alltag Überforderung auch mal in einem anderen Licht zu sehen.
Fakt ist aber nun mal, dass wir uns der Gesellschaft
anpassen müssen und nicht umgekehrt, denn ich brauche die anderen, die anderen
brauchen aber mich nicht. Drum muss ich die anderen verstehen aber nicht
umgekehrt. Daher soll ich eben Verständnis für unachtsame Autofahrer haben,
oder ich muss verstehen, dass andere eben auch nur Menschen sind, wenn sie sich
nicht um die Lieferung meiner Medikamente kümmern, auch wenn sie wissen, dass
das mit Folgen für mich verbunden ist. Und genauso muss ich halt auch
Verständnis haben, dass es Menschen gibt, die Berührungsängste mit Behinderten
haben, und einen deswegen den ganzen Tag anfassen, ohne Vorwarnung am Arm ziehen,
beiseite schieben oder in die Seite knuffen, wenn sie nicht schnell genug vorbeikommen.
Das ist dann wohl mein
Grad von Reife, meine Empathiefähigkeit, meine Lebenserfahrung oder mein
Einblick in die Welt, dafür immer Verständnis
zu haben. Alles andere wäre unreif, unbotmäßig, trotzig,
überzogen , unflexibel, egoistisch, exzentrisch , egozentrisch und
uneinsichtig. Und diese Eigenschaften muss man bei mir einfach mal endlich weg erziehen, indem man mir immer wieder die
Perspektive der anderen klarmacht. Und ich soll dazu natürlich dann auch noch verstehen, dass die
anderen sich wiederum natürlich nicht in meine Perspektive hinein denken
können, dass ihnen die Zeit fehlt sowie das Einfühlungsvermögen und die
Sensibilität. Denn man braucht schon eine gehörige Portion an Sensibilität,
damit man jemanden nicht einfach beiseite schubst oder sich mitten im Gespräch ohne
Vorwarnung mal eben wegdreht und
abwendet, weil man daran denken muss, dass der Blinde ja nicht merkt , wenn man geht, während er
noch seelenruhig weiter spricht. Und
schließlich, wie man mir immer wieder sagt, ganz und hundertprozentig kann man
einen anderen ja sowieso nie verstehen, und genau das ist der Grund, weshalb
ich dieses Verständnis und Einfühlungsvermögen und diese hohe Sensibilität mir
gegenüber nicht erwarten darf. Zehn Prozent würden mir auch schon reichen.
Mir hat mal ein Arzt gesagt, ich hätte eine zu hohe
Erwartung in die Welt, ich hätte ein verschobenes Weltbild, und ich müsse das
ändern. Leider hat das bisher noch keinen Erfolg gezeitigt.
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