Ich kann mich erinnern, dass ich in der Schule bis aufs Blut
gequält wurde von meinen sehenden Mitschülern, dass ich aufgrund meiner Wehrlosigkeit
auch später im Leben noch häufig nicht zum Zuge kam, wenn irgendetwas
ausgeteilt wurde oder man einen Platz suchen musste usw. Wenn dieselbe Mahnung
an diese Menschen gegangen wäre, doch mit mir toleranter umzugehen, wie sie mir
heute zuteil wurde, hätte ich das verstehen können. Ich frage mich manchmal, ob
es so etwas wie eine soziale Hierarchie gibt. Mit mir darf man umgehen, wie es
einem beliebt, und selten greift eine ein. Wenn ich aber, da ich eben auch ein
Mensch mit Fehlern bin , obwohl ich
einer Randgruppe angehöre , auch selbst einmal eine flapsige Bemerkung über
jemanden fallen lasse, der sich ganz offenbar seltsam benimmt, bin ich arrogant
und intolerant. Ich finde das heuchlerisch, zumal ich mir sicher bin, dass 99 %
aller derjenigen, die in der Bahn saßen, genauso gedacht haben wie ich, und das
in 50 % aller Fälle auch jemand einmal laut denkt und eine abfällige Bemerkung
über einen merkwürdigen Zeitgenossen fallen lässt. Mir hingegen, die selbst
einer Minderheit angehört, gesteht man dies offenbar nicht zu, obwohl man nicht
automatisch tolerant wird, nur weil man mit einer Behinderung auf die Welt
kommt. Mir sind negative Gefühle anderen
gegenüber genauso wenig fremd wie allen anderen Erdbewohnern auch. Ich kann
mich aber nicht erinnern, zumindest im Erwachsenenalter, jemanden einfach aus
einer Gruppe ausgestoßen zu haben, nur, weil er anders war, was mir aber sehr
häufig passiert ist. So ein Verhalten fände ich dann wirklich arrogant und
intolerant.
Zudem muss man mir zugestehen, dass ich große Angst hatte,
aufgrund meiner Vorerfahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, wo sogar
Menschen daneben saßen und zusahen, wie ich belästigt und angefasst wurde, und
dann diese "toleranten Zuschauer" auch noch bissige Bemerkungen
darüber machten, dass ich nicht auf die Anmache des alkoholisierten
"andersartigen Menschen" einging sondern wie jeder andere auch meine
Ruhe haben wollte. Ich muss mich also mit jedem abgeben, während andere sich
genau aussuchen, mit wem sie es zu tun haben wollen oder nicht. Immerhin habe
ich dies schon häufig schmerzhaft erfahren, dass ich aufgrund meiner
Behinderung und vielleicht auch aufgrund meiner Art und meines Wesens von
anderen nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Selbstverständlich bin ich
daher sensibilisiert, da mir ja das gleiche auch schon passiert ist, daher habe
ich auch mit meiner Sitznachbarin in der U-Bahn darüber nachgedacht, ob man
eventuell die Polizei holen müsse, da der Mann, der auch noch eine Bierflasche
in der Hand hielt, offenbar betrunken und verwirrt war. Ich beschied aber dann,
dass er harmlos sei, und solange er niemandem etwas täte, nichts unternommen
werden müsse. Wo beginnt hier die Toleranz, und wo hört sie auf? Was wäre
gewesen, wenn der Mann angefangen hätte, andere zu belästigen? Wer hätte dann
als 1. geschrien, dass keiner etwas getan hat?
Toleranz bedeutet, andere so zu lassen, wie sie sind. Die
Freiheit und die Grenzen des einzelnen hören aber da auf, wo die Freiheit und
die Grenzen des anderen beginnen. Die
Aufforderung zum mutigen Einschreiten sollte aber dann auch für alle Menschen
gelten. Zivilcourage bedeutet, da einzugreifen, wo jemand wirklich verletzt
wird. Das Eingreifen sollte aber nicht selektiv geschehen. Es ist leicht,
Zivilcourage zu zeigen einer Frau wie mir gegenüber, die sowieso harmlos ist
und sich nicht wehren kann, aber man sollte sich seine Energie dafür aufheben,
dort Zivilcourage anzuwenden, wo jemand wirklich anderen Menschen intolerant,
verletzend und beleidigend begegnet, also da, wo es wirklich Mut erfordert.
Wenn sich also einmal jemand traut, einzuschreiten, wenn eine sozial niedere
Person wie ich angegriffen wird, wo es also wirklich Mut erfordert, sich vor so
eine Person zu stellen, dann lasse ich
mir auch sagen, dass mein Verhalten diesem armen und verwirrten Mann gegenüber
nicht in Ordnung war. Mir aber Arroganz und Intoleranz vorzuwerfen, weil ich
mich auch schützen möchte, und niemandem wirklich etwas getan habe, ist
ziemlich billig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen