Samstag, 19. Oktober 2024

Man gönnt sich ja sonst nix

or einiger Zeit habe ich einen neuen Computer ausgeliefert bekommen. Der Mann von der Hilfsmittelfirma schwärmte von einem Musical über Tina Turner. Er beschrieb einen Gänsehaut -Effekt, er beschrieb ihr Leben, und erzählte mir, wie schön es war, und als dann die Musik anfing, wie laut es war, aber dass er diese Lautstärke nicht als unangenehm empfand. Vielmehr war es toll, mit so vielen Menschen in einem Raum zu sein und all diese bekannten Lieder zu hören, und alles sei so schön im Originalton gelaufen. Die Band habe originalgetreu gespielt, und die Schauspielerinnen, die Tina Turner verkörpert hatten, hätten in allen Altersstufen von Tina Turner genau wie sie gesungen. Er würde auf jeden Fall noch mal hinfahren. Es sei in Stuttgart, er habe eine Karte geschenkt bekommen und sei mit seiner Familie dorthin gefahren. Ich überlegte mir, da ich nun den Mund wässrig bekam, doch dasselbe zu machen und mir diesen schönen Ausflug einmal zu gönnen. Ich dachte mir, man soll ja Geld nicht in Güter anlegen sondern in Erinnerungen. Denn die kann einem niemand nehmen. Ich besprach dies mit meinem Taxifahrer, denn der freut sich immer, wenn ich ihn mit einer Fahrt beauftrage. Wir regelten also die Details, und es wurde ein Preis ausgemacht. Außerdem setzten wir uns dann beide zusammen und riefen bei der Hotline des Veranstalters an. Es gab sogar eine spezielle Hotline für Rollstuhlfahrer und „Anders behinderte“, wie dies genannt wurde. Die Frau am Telefon war endlos geduldig, denn wir mussten erst überlegen, an welchem Tag wir nun fahren würden. Am Wochenende würde es teurer sein, und ich müsste ja den Taxifahrer mit einladen, weil er ja nur wegen mir dorthin fahren wollte. Er selbst habe ja kein Interesse an Tina Turner, aber ich brauchte ja eine Begleitung. Mit einer Assistenz im Zug hinzufahren wäre unrealistisch gewesen, denn dann hätten wir auch noch übernachten müssen. Mir wurde von dem Hilfsmittelhändler auch gesagt, dass die Veranstaltung am Nachmittag und am Abend stattfindet, wobei sich dann am Telefon herausstellte, dass unter der Woche nur Veranstaltungen ab 18:00 Uhr gegeben werden. Am Sonntag könne man auch ab 15:00 Uhr kommen, aber dann wäre es wesentlich teurer. Demnach entschieden wir uns, an einem Donnerstag zu fahren, und nun mussten wir noch den geeigneten Donnerstag finden. Nachdem wir dies nun geschafft hatten, musste ich all meine Daten für die Bezahlung diktieren, und dann endlich war alles gebucht. Wir kauften eine günstige Karte an der Seite, denn ich sehe ja sowieso wenig, und ich konnte nicht für zwei Personen so einen teuren Sitzplatz bezahlen. Insgesamt war es aber auch trotz Behindertenermäßigung kein billiges Vergnügen. Ich wollte mich natürlich auch dementsprechend schön machen. Ich zog daher eine schwarzgraue Jeans an, deren Reißverschluss sogar an der Seite ist, da es mehr Leggings sind als eine normale Hose. Diese sind für den Sommer. Außerdem hatte ich eine schöne weite rote Bluse an, ich zog schöne Ohrringe mit silberfarbenen Kugeln an und trug dazu zwei Ketten, die genau farblich in ihren Grautönen zusammenpassten. Diese Ketten gehören zusammen. Dazu hatte ich dann zur Feier des Tages doch einmal schwarze Perlonstrümpfe an und meine schwarzen Ballerina Schuhe. Außerdem trug ich meine etwas feinere schwarze Popelin-Jacke mit Reißverschluss und Kapuze, die aber trotzdem eher klassisch und nicht sportlich geschnitten ist. Ich dachte, für so einen Tag muss ich mich besonders schick machen. An dem besagten Donnerstag im Juni wurde ich dann abgeholt. Wir fuhren also los, ich hatte ein paar süße Teilchen dabei, der Taxifahrer hatte den Kaffee organisiert. Wir fuhren schon eine Weile, und da genau zu dieser Zeit die Europameisterschaft stattfand, war Stuttgart natürlich voll, und wir mussten noch einen Umweg fahren, bis wir endlich ankamen. Wir parkten das Auto in einem Parkhaus und kamen direkt von dort in eine Halle mit verschiedenen Essensständen. Zunächst tranken wir einen Cappuccino, denn gegessen hatten wir ja bereits im Auto. Ich dachte, etwas essen können wir auch noch nach der Vorstellung, vielleicht sind in so einem Haus die stände dann auch noch offen, wenn die Leute rauskommen. Die Halle mit den Essenständen war groß, laut, überall waren Neonröhren in verschiedenen Formen angebracht, man hörte verschiedene Kühlschränke, Gefriertruhen und Automaten, und es war insgesamt nicht sehr gemütlich. Wir gingen dann nahtlos hinüber in das angrenzende Gebäude, welches mehr ein Kino als ein Theater war . Es war zwar alles mit rotem Teppich ausgelegt, aber trotzdem konnte ich unter dem Teppich den für mich etwas zweckmäßigen Charakter des Gebäudes erkennen. Wir wurden dann an einem Infostand sehr freundlich empfangen, und man erklärte uns, wo wir sitzen würden. Der Zuschauerraum war wie bei einem Theater gestaffelt, und wir saßen etwas hinter einer Säule. Insgesamt fand ich zwar das Personal sehr freundlich, die Lokalität aber doch irgendwie nicht ganz so feierlich. Der Taxifahrer meinte außerdem, dass die Leute nicht alle so fein angezogen waren wie ich. Die meisten liefen ganz normal und leger herum. Ich war also auch noch hoffnungslos overdressed Dann begann das Musical, ich hatte ziemliche Mühe, die Texte zu verstehen, die in Deutsch vorgetragen wurden, denn die Schauspieler hatten einen ziemlich harten amerikanischen oder niederländischen Akzent. Zwischendurch wurden auch immer die Lieder von Tina Turner gesungen, allerdings stark verkürzt und fast nur auf Deutsch. Ich vermute jetzt mal einfach, dass das an den rechten für die Lieder liegt. Soviel ich mich noch erinnere, war der Vater von Tina Turner Prediger, sie sang im Kirchenchor, und ihre Mutter war sehr schlecht auf sie zu sprechen. Besonders auffällig war eben, dass sichAnna-May, so hieß sie zunächst, beim Singen sehr hervortat und laut ihrer Mutter zu sehr im Mittelpunkt stehen wollte. Die andere Tochter mochte sie wesentlich lieber. Daher ging sie dann von ihrem gewalttätigen Mann fort und nahm nur die eine Tochter mit. Anna May wurde dann zu ihrer Oma geschickt, die aber nicht mit ihr fertig wurde. Irgendwann kam dann, so erinnere ich mich, ihr Mann und Bandleader, der sie allerdings auch misshandelte und von dem sie dann den Namen hatte. Sie ging nach langjährigen Misshandlungen, als ihre Kinder groß genug waren, von ihm weg mit dessen Managerin, und irgendwann stand sie wohl mit ihren beiden Kindern hungernd und ohne einen Cent in der Tasche vor einem Hotel. Sie hat dann wohl sich und die Kinder mit Putzen durchgebracht, aber irgendwie wurde sie dann doch von jemandem entdeckt, der mit ihr in London eine Schallplatte machen wollte. Ich vergesse ja immer gleich wieder alles, aber ich weiß noch, dass sie sich von ihm dann ebenso emanzipierte, wobei man zunächst nicht geglaubt hätte, dass sie in ihrem Alter noch mal groß rauskommen würde. Sie stellte dann ihre eigene Band und ihre eigenen Lieder zusammen, mit denen sie dann auch berühmt wurde. Danach kam dann eben das Finale mit all ihren bekannten Songs, allerdings nur in einer ziemlich merkwürdigen deutschen Übersetzung. Zum Beispiel "I am a private Dancer" wurde mit „ich will weiter tanzen“ übersetzt. Das Finale war eigentlich das Allerbeste, da kam dann etwas von diesem Gänsehauteffekt zustande, der mir so lebhaft geschildert wurde. So hatte ich mir eigentlich das ganze Musical vorgestellt gemäß der Beschreibung, die mir ja zuvor so lebhaft geboten wurde. Es gab außerdem eine Pause, während der wir in den Raucherbereich gingen. Das war ein Balkon aus Beton, der eher einem Koben glich, wo die Leute herumstanden und rauchten. Es gab keine Stühle, keine Pflanzen, keine Gemütlichkeit, es wirkte wirklich so lieblos und ohne Stil, hier, wenn ihr rauchen wollt, bitte. Ich selbst rauche nicht mehr, ich habe 2002 damit aufgehört. Ich finde aber trotzdem, dass man diese Ecken genauso wie die anderen Zonen, wo Leute sich entspannen oder einfach aufhalten, gestalten sollte. Bis wir überhaupt erst mal dort hinkamen, hatten wir eine ziemliche Odyssee. Ich kenne das bei unserem Ort so, wenn wir dort ins Theater gehen, gibt es ein großes Foyer, und so kann man dann durch die Eingangstür gehen, und dort stehen dann die Leute, wenn sie frische Luft schnappen möchten. In der oberen Etage gibt es bei uns eine Cafeteria. Aber kleinere Snacks wie Brezeln und Getränke kann man auch direkt am Eingang haben. Für mich wirkte das alles mehr wie eine Fabrikhalle. Während der Pause wollte ich auch noch auf Toilette, und da hat mich dann eine Frau mit reingenommen . Als ich wieder rausgehen wollte, musste ich auch die drei Stufen, die ich zur Toilette hochgegangen war, wieder hinunterlaufen, wo mich dann wieder der Taxifahrer erwartete. Auf dem Weg nach unten hörte ich, wie die Leute hinter mir laufend flüsterten, „na, schafft sie es, kommt sie runter, schafft sie es?“ Ich fand das ziemlich unangenehm und peinlich. Der Taxifahrer sagte mir auch öfter , dass die Leute mich alle so anstarren. Ich fragte ihn, ob noch andere behinderte da sein, ja, es gäbe dort auch noch andere Behinderte, er habe einige im Rollstuhl gesehen. Als ich ihn fragte, ob diese ebenso angestarrt wurden wie ich, verneinte er dies. Nur ich sei so angeschaut worden. Ich fragte ihn, wie mich denn die Leute angesehen hätten, da meinte er, mit Entsetzen. Ich weiß nicht, woher das kommt, und woran das liegt, dass mir häufig die Begleitpersonen sagen, dass man mich so anstarrt. Wenn ich mit Leuten unterwegs bin, werde ich öfter mal gefragt, was hast du eigentlich angestellt, die Leute schauen Dich so böse an. Auch wenn ich zum Beispiel nach der Kennerin rufe oder jemanden anspreche, um nach dem Weg zu fragen, sagen mir meine Begleitpersonen immer, dass die Leute mich böse und feindselig ansehen, als sei ich auf einem Fahndungsposter abgebildet. Ich verstehe nicht, woher diese Ablehnung und Feindseligkeit kommt, und warum man mich so häufig anstatt. Ich habe einen Dialysehsunt am Arm, der ziemlich ausgebeult ist. Ich hatte aber an diesem Tag eine lang ärmliche Bluse und eine lange ärmliche Jacke an, daran konnte es also nicht liegen. Ich kann verstehen, wenn die Leute den Arm anstarren, weil man so etwas ja normalerweise nicht sieht. Ich kenne auch Menschen, die mich fragen, ob ich an der Dialyse bin oder war, und dann kommt es häufig zu Gesprächen, dass deren Verwandte oder Freunde ebenfalls an der Dialyse sind oder waren. Somit ist dies auch ein Aufhänger für Kontakte. Dennoch frage ich mich, warum man da so unverhohlen und ostentativ hinschauen muss. Mir wurde von Familienmitgliedern gesagt, ich solle das abdecken, das sähe nicht gut aus. Ich finde das schlimm, denn dieser Shunt hat mir zehn Jahre lang das Leben gerettet, ich habe die Dialyse überlebt, und ich bin stolz darauf. Deswegen sehe ich nicht ein, warum ich das verstecken muss. Wenn jemand ein Problem damit hat, soll er wegschauen. Was ich aber noch weniger verstehe ist, dass ich sogar dann angestarrt werde, wenn man den Arm überhaupt nicht sieht sondern nur den Ärmel einer Bluse oder einer Jacke, wo dann die Beule überhaupt nicht zu sehen ist. Zusätzlich trage ich eine Brille mit gelben Kantenfiltern, aber der Gelbton ist sehr dezent, und es gibt heutzutage so viele Menschen, die verrückt getönte Gläser tragen. Die Menschen tragen heutzutage so viele verrückte Sachen, verhalten sich häufig so auffällig oder provokant, machen so spektakuläre Dinge oder outen sich mit allen möglichen Dingen. Warum dann mein Verhalten, wo ich mich wirklich bemühe, nicht dauernd aufzufallen, den anderen so aufstößt und solches Entsetzen einflößt, dass sie mich dauernd anstarren oder zuweilen auch aggressiv, ablehnend und abweisend behandeln, verstehe ich nicht. Als dann das Musical vorüber war, waren natürlich die Stände mit dem Essen zu. Ich hatte schon ziemlichen Hunger, wir fuhren aber dann Richtung Heimat. Während der Fahrt fiel dem Taxifahrer ein, dass er Oliven und Fladenbrot im Auto hatte. Das gab er mir dann, und die Oliven waren fantastisch. Hier darf ich jetzt mal Werbung machen, die gibt es bei Aldi. Sie sind in einer Plastikschale mit Zellophan abgedeckt. Sie sind billig und schmecken wunderbar, sind riesengroß und ganz glatt und fest. Er hat mir dann später noch mal welche mitgebracht, sie haben auch eine feine Note von Knoblauch, aber nicht aufdringlich. Das war dann noch eine schöne Erfahrung während der Fahrt, und ich war von den Oliven sehr gut gesättigt. Mein Fazit, es war jetzt nicht schlecht, aber dafür so viel Geld hinzublättern und einen so weiten Weg auf sich zu nehmen, das war es nun wirklich nicht unbedingt Wert. Es war ganz schön, es war jetzt nicht enttäuschend, aber im Hinblick auf die Erwartungen, die bei mir geweckt wurden, hätte ich mir den Weg auch sparen können. Denn nun habe ich obendrein noch erfahren, dass das Musical auch zu uns kommt. Da hätte ich mir wirklich in den Hintern beißen können. Hätte ich gewartet und wäre bei uns dann hingegangen, könnte ich sagen, es war den Aufwand und das Geld wert. Ich hab noch mal mit dem Hilfsmittel -Menschen darüber gesprochen, er schwärmt weiterhin und erzählt mir immer, dass er am Morgen so gerne die Lieder von Tina Turner hört, und das er immer noch so begeistert von diesem Musical ist. Ich bin jetzt keine spezielle Liebhaberin von Tina Turner, aber ich fand ihre Lieder immer sehr schön, ansprechend, rhythmisch und melodiös, und ich fand die Frau auch als Menschen sehr anständig, fleißig und respektabel, wenn man bedenkt, wie lange sie noch aufgetreten ist und tolle Musik abgeliefert hat. Von solchen Leuten gab und gibt es nicht viele. Vielleicht noch Jennifer rasch, Phil Collins oder Chris de Burgh, die Popmusik machen, die allerdings weder seicht noch extrem kompliziert ist, und das sind zumindest Leute, die meines Wissens nicht so viele Skandale produziert haben. Insgesamt höre ich natürlich ganz andere Musik, bin aber eben auch offen nach diesen Seiten hin. Manchmal wünschte ich mir, dass man in die Zukunft sehen könnte, oder dass ich vielleicht ein bisschen mehr Intuition hätte und ein bisschen mehr voraus denken würde. Ich glaube, das würde vieles besser machen, wenn auch nicht alles, denn sein Umfeld und die Reaktionen der anderen kann man nicht beeinflussen. Deswegen schreibe ich diesen Blog in der Hoffnung, dass ich die eine oder den anderen vielleicht doch etwas ins Nachdenken bringe. Trotzdem war es eine tolle Erfahrung und ein Abenteuer und ein Erlebnis, das ich mir halt einfach mal gegönnt habe.

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